Sonntag, 14. Februar 2016
Entkommen
Christa Anderski

Glastüren öffnen sich vor mir. Ich schreite hindurch und befinde mich in einem riesigen Raum. Hunderttausend Gegenstände blicken mir entgegen. Überall ein Blinken und ein Funkeln. Alles im Raum versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Verwirrt bleibe ich stehen. In diesem Augenblick ertönt die durchdringende Stimme eines Lautsprechers und drängt sich mir auf: „ Herzlich willkommen! Heute haben wir tolle und exklusive Angebote für Sie!“ Die Stimme zwingt mir den allgemeinen Kurs des Hauses auf. Wie wild winken mir plötzlich die Preisschilder mit ihren Rabattangeboten zu. Sie locken mit ihren feinen, aber unüberhörbaren Stimmen: „Kauf mich, kauf mich!“ und durchbohren mich wie Pfeile. Ich krümme mich, um ihrem beschwörenden Zwang zu entkommen. So wie damals die Gefährten von Odysseus verstopfe auch ich mir gegen den Sirenengesang des Hauses die Ohren.
Mein Blick fällt auf die Menschen, die mich in den Gängen streifen. Die einen schlendern suchend, andere wiederum hasten zielstrebig auf ein bestimmtes Ziel zu. Es sind junge Familien, ältere Ehepaare, langjährige Freundinnen. Ihnen allen gemeinsam ist der verlangende, stetig herumirrende und angespannte Ausdruck ihrer Augen. Ich merke, dass ich mich immer mehr verschließe. Ich fühle den stetigen Druck des Hauses auf mir lasten. Er lässt mir keinen Moment der Besinnung und zwingt mir Vorgefertigtes und Trendiges auf.

Da entdecke ich vor mir ein Schild: „Entfalte dich!“ Es weist auf eine Abteilung hin, die mit dem Wort „Freistil“ bezeichnet wird. Eine Woge der Erlösung überkommt mich, und ich haste dieser Abteilung entgegen. Ist dies endlich der Ort, an dem ich Zuflucht vor dem permanenten Kaufzwang finden kann? Ein Platz, wo ich vor den abertausend Reizen geschützt bin? In mir entsteht das Bild eines stillen Raumes, in dem keine Forderungen, keine Zwänge mich bedrängen. Ein Ort, an dem ich mich frei entfalten kann. Vielleicht gibt es dort sogar einen Mensch, der mit mir gemeinsam in aller Ruhe meine Vorstellungen für einen Schrank entwickelt und ihn sogar nach meinen Wünschen bauen wird. Einen Schrank, der mit meinen anderen Möbeln zu Hause harmoniert. Zu dem großen Leinenschrank meiner Großmutter, in dem sie ihr Linnen fein säuberlich ordnete, zu dem breiten schwarzen Schreibtisch meines Großvaters, von dem aus er, Pfeife rauchend, die Geschicke der Familie lenkte. Auch der hohe schwarze Bücherschrank, aus dessen Glasfenster viele Bücher neugierig in die Welt schauen, sehnt sich wie ich nach einem Schrank, mit dem er über alte Zeiten, Familie und den Geburtstag des Kaisers sprechen kann.
Voller Hoffnung trete ich in die Freistilabteilung und fahre entsetzt zurück. Metallisch glänzende Totenköpfe, goldene Hirschgeweihe und buntschreiende Bilder grinsen mich an. Ich drehe mich um und flüchte auf die Dachterrasse des Restaurants. Dort an der kalten, frischen Luft atme ich durch. Endlich Ruhe! Nichts und niemand bedrängt mich, allein der Wind berührt mich. Befreit strecke ich meine Arme aus. Da ergreifen mich tief fliegende Wolken und tragen mich in ein Land, in dem ich mich und meine inneren Bedürfnisse hören und entfalten kann.

Ort: Möbelhaus Schaffrath



Samstag, 13. Februar 2016
Völkerwanderung
Von Lore Heller

Zaun, Stacheldraht, Mauer sollen jene abhalten, die aus ihren Häusern und Hütten fliehen, bevor sie zerbombt, zerstört werden.
Diejenigen, die nichts mehr zu essen, auch nicht mehr genug zum Trinken haben, sollen nicht dorthin ziehen dürfen, wo es Nahrung und Wasser im Überfluss gibt.
Dieses Gelände gehört Deutschland, jenes Frankreich und so fort, da dürfen zunächst mal nur Deutsche, Franzosen und andere mit Pässen und Erlaubnis leben.
Dass dies so geregelt ist, gehört zum Grundwesen eines Staates.
Der andere Staat, aus dem die Flüchtlinge kommen, hatte auch Ausweise und alles, was dazu gehört, aber keine Voraussetzungen zum Leben in ihm, kein Dach mehr über dem Kopf, keine Ernte, kein Essen, kein Trinkwasser.

Die Welt, die sich abschottet, hofft wohl, von der Lebensbedrohung der anderen nicht betroffen zu sein.
Insgeheim, zuweilen bereits offen, geht jedoch Angst um, einfach überrollt zu werden von der Menge der Geflohenen, denen ja nichts anderes übrig bleibt als wegzugehen mit dem archaisch anmutenden Bündel, Sack oder Korb unter dem Arm, auf dem Kopf oder über dem Rücken.

Die Tore geschlossen zu halten, die Mauern zu bewachen, wird irgendwann zu dem Abbild der verschlossenen Burg führen, letztendlich einer belagerten Festung, vor der sich andrängende Massen von hungernden, frierenden und auf der Stelle tretenden Menschen sammeln und immer noch mehr werden.

Irgendwann kann es zu einer Belagerung werden, die letztlich im Sturm der Verzweiflung gegen die Burg anrennt;
wenn nicht weise Frauen und Männer rechtzeitig beraten, was zu tun sei, um die Menschen in der Burg mit ihren vollen Töpfen mit den Menschen von draußen vor den leeren Tellern in Kontakt zu bringen und mit jenen mit dem Teilen von allem zu beginnen.

Da reicht es nicht, Ghettos zu bilden, vielmehr müssen Siedlungen, Dörfer und Stadtteile errichtet werden; alles Halbherzige muss hinter sich gelassen werden, und die Gemeinschaft wird es schaffen.

Wer ist da, der es den Menschen erzählt und sagt und sie mitnimmt in eine Epoche der Veränderung?



Sonntag, 31. Januar 2016
Dem Neuen entgegen leben
Das neueste Buch der Autorinnengruppe "Schreibzeiten", in der wir versuchen, den persönlichen Folgen und Konsequenzen der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse nachzuspüren

Das neueste Buch der Autorinnengruppe "Schreibzeiten", in der wir versuchen, den persönlichen Folgen und Konsequenzen der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse nachzuspüren



Mittwoch, 27. Januar 2016
Guten Morgen Monsieur Heine
Von Rita Bauer

Brief an Heine im Jahre 2015 den 10. November

Ich hoffe sehr, dass Sie sich von ihrem Besuch gestern in meinem Salon erholt haben und nicht trunken wurden – vom Champagner oder dem Likör von Madame Gottwald; sondern von der Bewunderung der Damen, die ihnen fast zu Füssen lagen. Besondere Bewunderung zollte Ihnen die Gräfin derer von Gutenberg. Doch der von ihnen gezeigten Mine war zu entnehmen, dass wohl Madame ihnen nicht so sehr zusagte. Ihre Statur jedoch Verehrtester straffte sich (er maß nur 1,52) mit einem Ruck, als ich sie mit Madame George Sand bekannt machte. Diese Frau hebt sich schon von der Statur her von der übrigen Damenwelt deutlich ab. Eine eher knabenhafte Erscheinung, wie Sie das ja das selbst wahrnehmen konnten. Ihr encoeur füllt ihr Mieder nicht sehr. Dies kommt ihr jedoch zugute, wenn sie in Männerkleidern reist und dies unterstreicht damit auch ihre Selbstständigkeit.

Vergaffen Sie sich nicht, denn Madame Sand ist zur Zeit mit dem hervorragenden Musiker Franz Liszt liiert. Ihre Augen Verehrtester strahlten jedoch ob der Verehrung, die Ihnen alle anwesenden Damen um die Wette darbrachten.

Darüber hinaus war ich von Ihrer überaus guten Laune überrascht, da ich sie meist nur, verzeihen Sie mir den Ausspruch, etwas unzufrieden und manches Mal auch verdrießlich, wahrgenommen oder gar bissig erlebte. Sie verschonten uns gestern auch mit ihren sehr oft ausgesprochen spitzfindigen Bemerkungen. Ich selbst fühle mich als mütterliche Freundin mit ihnen. Wie ich in Erfahrung brachte, haben Sie ein inniges Verhältnis mit Ihrer Frau Mutter. Durch eine Indiskretion aus ihrem Umfeld, erfuhr ich dass Sie diese eine alte süße Katze nannten.

Sind oder waren Sie ein Muttersöhnchen. Erinnern sie sich daran, dass ihre Katzenmutter Sie, mit den Zähnen in ihrem Nackenfell in Sicherheit trug. Verzeihen Sie mir diesen Vergleich, doch ich erlaube mir – sozusagen wegen meines fortgeschrittenen Alters – den Platz einer Matriarchin Ihnen gegenüber einzunehmen.

Ich wünsche Ihnen weiterhin so kreative wunderbare allzeit treffende Schriften für uns zu erdichten. Obwohl ihre Frau Mutter einst verkündete, dass Dichter zu werden, dass schlimmste sei, was Ihnen geschehen könnte.

Nun verbleibe ich mit weiterhin größter Bewunderung für Sie Ihre
Freifrau Rita Rosa von Schaefersburg

PS: Ich hoffe der Bote dieses Schreibens trifft Sie noch an, bevor Sie nach Paris abreisen.



Samstag, 28. November 2015
Krieg - welch schreckliche Vorstellung
Von Christa Anderski

Mein Magen verkrampft sich. Verzweiflung steigt auf. Mein Hals schnürt sich zu. Tränen formen sich. Ich möchte fliehen. Meine Hände zucken, sie wollen die Ohren zuhalten. Nichts möchte ich hören, nichts sehen, nichts fühlen, doch ich spüre, dass es unaufhörlich durch meine Finger, meine Haut und meine Gedanken in mich dringt.
Krieg – Elend, Tod, Zerstörung, Gewalt, unendliches Leid.
Wut steigt auf. Ich hasse Krieg. Ich hasse das Elend, das er mit sich bringt. Ich will nicht, dass meine Kinder und meine Enkel es erleiden müssen.
Ich hasse die Menschen, die die Grausamkeit des Krieges vergessen haben und kriegerische Vergeltung verlangen.
Ich hasse mein Gefühl der Hilflosigkeit. Lauthals möchte ich aufschreien. Nehmt endlich Vernunft an! Lasst nicht wieder Generation heranwachsen, für die Gewalt und Vernichtung die einzig mögliche Antwort auf Konflikte sind! Nicht schon wieder Hunderttausende von Menschen, die ihre Gefühle abtöten, die beziehungsunfähig sind, Menschen, die funktionieren, aber nicht mehr lieben können!
Die Wut und das Wissen um die schrecklichen Folgen eines Krieges zwingen mich aus meiner Hilflosigkeit. Ich will nicht in der Betäubung, in der Apathie und in dem Gefühl des Ohnmächtigseins versinken! Ich will etwas tun, um dem Wahnsinn Einhalt zu bieten.

Meine Mitmenschen wachrütteln, so wie damals bei der Friedensbewegung!
Den politisch Verantwortlichen klar machen, was sie mit ihren Entscheidungen anrichten!
Ihnen deutlich machen, dass es viele Menschen gibt, die keinen Eintritt in den Krieg wollen!

Ich weiß, es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber diesen Tropfen will ich aussenden.



Montag, 23. November 2015
Lesung
Die Gruppe "Schreibzeiten" liest wieder.
Diesmal am 25. November um 15.00 Uhr in der Düsseldorfer Jonakirche, Im Lohauser Feld 55.
Wer zuhören und miterzählen möchte, ist herzlich eingeladen.



Montag, 9. November 2015
Wenn ich überfordert bin ...
Von Karina Weiß
…versuche ich, mich dem Anlass zu entziehen. Jetzt im Alter habe ich dazu mehr Freiheit. Ich muss einem langweiligen Vortrag nicht mehr bis zum Schluss zuhören und verlasse den Raum. Ich klappe ein Buch zu, in dem mehr Namen vorkommen, als ich behalten kann. Ich muss es nicht zu Ende lesen. Ich kann leichten Herzens zugeben, dass mich eine Aufgabe überfordert, fürchte keinen „Gesichtsverlust“. Ich muss nichts mehr darstellen, keine Position verteidigen, will nicht mehr unbedingt andere von meiner Meinung überzeugen. Ich verlange von mir nicht mehr, hartnäckig zu kämpfen.
Wenn ich es schaffe gelassen zu bleiben, fühle ich mich stark und wohl und bin sicher, dass ich Recht habe.



Donnerstag, 5. November 2015
Frisch und lecker
Von Rita Dietrich

Von Ferne hörte ich einen Marktschreier, konnte aber nicht verstehen, was er rief. Ich bewunderte das alte Städtchen Lintorf, das sich seinen dörflichen Charakter so liebevoll bewahrte. Bauernhäuser im Fachwerkstil, Wirtshäuser aus den 50er Jahren, Innenhöfe eigenwillig geschmückt. Hier könnte ich leben, dachte ich.
Wir überquerten die Holzbrücke über ein munteres Flüsschen, schlenderten an der Kirche vorbei, hielten an einem Wildgehege und gelangten auf den Vorplatz eines großen Bauernhofes. Hier standen viele Trödler mit ihren Angeboten. Es gab Bücher, Gläser, Spiel-sachen, Fahrräder, Klamotten, alles war zulässig. Den Marktschreier hörte ich immer noch. Unser Weg führte durch ein kleines Wäldchen, sehr romantisch, und auf einer Lichtung sah ich ihn. Ich wusste nun, was mir an seinem Rufen aufgefallen war. Er sprach niederrheinischen Dialekt und sah aus wie ein Holländer. Seine Haare waren hellblond und sein Gesicht wettergegerbt, wie es oft Menschen haben, die draußen arbeiten.
„Hier seid ihr willkommen, die Pilzsaison ist eröffnet“, rief er laut. Er saß an einem kleinen Tisch mit einigen Altertümchen, umgeben von unzähligen Kästchen voller weißer Champignons. „Die habe ich heute in der Frühe geerntet, ganz frisch und lecker.“ Und er gab uns sein Rezept preis. Die Leute blieben standen und staunten wegen der Vielzahl der Kartons mit verführerischem Inhalt. Der Niederrheiner rief: „Hier können Sie ihre Familie dezimieren.“
Eine Frau entgegnete: „Aber ich habe doch nur so eine kleine Familie.“
„Ja“, sagte er, „ich mittlerweile auch“. Und er grinste.
Ich lachte; ich fand ihn köstlich. Wir kauften Pilze, wie viele andere Leute auch.
Und: Hurra, wir leben noch!!



Donnerstag, 22. Oktober 2015
Lesung
Donnerstag, den 19.11. 2015,
von 19.00 bis 21.00


Im Rahmen des 7. Düsseldorfer Lesefests liest
die Düsseldorfer Autorengruppe „Schreibzeiten“ für Sie aus ihrer neuesten Anthologie „Dem Neuen entgegen leben“. Cafe´ Decker bietet für die autobiografischen Texte eine angenehme Umgebung, um den prägenden Spuren des 2. Weltkrieges und der Nachkriegszeit nachzugehen. Anschließend haben Sie Gelegenheit, mit den Zeitzeugen über den „Nachhall des Krieges" ins Gespräch zu kommen.

Cafe´Decker, Geibelstr. 76, 40235 Düsseldorf - Grafenberg



Donnerstag, 8. Oktober 2015
Alle wollen älter werden, doch keiner alt
Von Rita Dietrich

Sind wir schon alt ? Nein, sind wir nicht !
Patina ha’m wir im Gesicht.
Es reißt schon manchmal in Gelenken,
das kann uns keine Freude schenken.

Die Augen wollen nicht mehr recht,
und Hören geht ein bisschen schlecht.
Die Haare werden immer dünner,
das sieht man nur bei Licht im Zimmer.

Nicht mehr so flott ist unser Gang.
Früher tänzelten wir stundenlang
auf Stöckeln durch die Altestadt.
Nein, Hühneraugen ha’m wir satt.

Die Zähne fallen langsam aus,
und auch der Giftzahn musste raus.
Der Rücken schmerzt, der dicke Zeh,
ein Fersensporn tut höllisch weh.

Die Jugendzeit ist überschritten,
da hilft kein Flehen und kein Bitten.
Auch der Zenit ist lang’ passé,
na und? Bald tut kein Zahn mehr weh.

„Schreibzeiten“ ist jetzt unser Name.
Fast jede von uns ist ’ne Dame.
„Blitzmädels“ muss ich Euch oft nennen,
und dankbar bin ich, Euch zu kennen.

Ich denk’, wir alle sind recht frisch,
und sitzen wir an diesem Tisch
mit Erny, sind wir wirklich froh,
so fit zu sein – nur weiter so !