Freitag, 2. Oktober 2015
Schreiben in der Buchhandlung
Warum in einer Buchhandlung immer nur kaufen? Wir haben uns am 26. September dort getroffen, um selbst zu schreiben. Einige der Texte sind nachzulesen in der Rubrik "Schreiben an ungewöhnlichen Orten". Viel Spaß beim Lesen.



Mittwoch, 30. September 2015
Das Ringen um das Unbekannte
Christa Anderski

Ort: Mayersche Buchhandlung

Ich betrete das Weltreich der Bücher. Tausend, abertausende Bücher kreuzen meinen Weg. Sie rufen und locken mich. Ich will ihnen nicht folgen, denn heute bin ich auf der Suche nach dem Unbekannten. Meine Schritte führen mich vorbei an den Regalen, die mit Architektur, Medizin und Reisen beschriftet sind. Auch Romane und Krimis lasse ich links liegen. Vieles ist mir dort bekannt. Ich gehe weiter. Plötzlich taucht vor mir ein großes Regal auf, von dessen roter Aufschrift mir sehr viel Fremdes entgegenweht. Die Buchstaben künden von Bank – Börse und Aktien. Ich verspüre den Hauch des Unbekannten. Noch nie habe ich ein Buch aus dieser Sparte aufgeschlagen.

Ich bleibe stehen und tauche ein in das gänzlich Unbekannte. Sofort springt mir der Titel eines Buches in die Augen: „Der Wolf in der Wall Street“. Ja, das ist es! Er bestätigt mich in meinem Vorurteil. Bank und Börse sind ein grausames Geschäft. Wer schwach ist, wird von den Starken zerrissen. Man geht über Leichen, um das einzige Ziel, den Reichtum, zu erreichen.
Der zweite Buchtitel, den ich erblicke, stärkt mich in dieser Einstellung. „Schnelles Geld, wie man einfach reich werden kann.“ Meine Gedanken driften zur aktuellen Tageskrise. VW betrügt Behörden und Menschen, nur um seinen Gewinn zu maximieren. Ehrlichkeit und Moral bleiben auf der Strecke.
Ich atme tief durch und nehme ein anderes Buch in die Hand. „Die Kunst über Geld nachzudenken“. Vielleicht kann es mir die fremde Lebenseinstellung näherbringen. Der Autor, ein „Börsenguru“, will in diesem Buch der Faszination des Geldes nachspüren. Er schreibt: „So mancher Spekulant verliebt sich so sehr in die Börse, dass er für nichts anderes mehr einen Sinn hat.“ Ja, genau, das ist das, was ich so verabscheue! Ich lese weiter: „Die Betroffenen sind zu bedauern; wie eintönig ist das Leben ohne den Genuss an Essen, Trinken, schönen Frauen und natürlich der Musik“. Unmut überkommt mich, das soll der Lebenssinn eines Menschen sein? Das ist mir zu wenig!
Es wirkt auf mich wie ein Leben mit Scheuklappen, alles wird aus dem Leben ausgesperrt bis auf das Ziel: Geld anhäufen. Das ist für mich ein leeres, kaltes Leben, das allein mit Zahlen und der Jagd nach Reichtum ausgefüllt ist.
Ich lese trotzdem weiter und finde mich bald in dem Dickicht von Geboten und Verboten, von Insider-Tipps und Börsen Crashs nicht mehr zurecht. Die Faszination, der der Autor dabei empfindet, springt nicht auf mich über.
Entnervt nehme ich das nächste Buch zur Hand: „So denken Millionäre.“ Vielleicht finde ich durch dieses Buch endlich einen Weg zum besseren Verständnis dieser Welt. Zwar lässt mich der Untertitel: „Die Beziehung zwischen Ihrem Kopf und Ihrem Kontostand“ ein wenig daran zweifeln, ebenso der Satz: „Glauben Sie kein Wort von dem, was ich sage!“
Nichtsdestotrotz lese ich weiter und stoße auf den Satz: „Meine innere Welt erschafft meine äußere Welt. Fassen Sie sich nun an den Kopf und sagen Sie: „Ich denke wie ein Millionär.“

Aber damit ist noch nicht getan. Der Autor führt aus, dass persönliche Verhaltensmuster bezüglich Geld und Erfolg schon in der Kindheit falsch programmiert werden. Deshalb muss man folgenden Satz laut sprechen: „Nimm eine neue Denkstruktur an, eine die dein Glück und deinen Erfolg unterstützt“.
Wut steigt in mir auf. Jetzt werden schon psychologische Denkansätze und psychologische Methoden angewandt, um sie dem einzigen Ziel „Reichtum“ unterzuordnen.
Doch die nächste Deklaration setzt dem Ganzen die Krone auf. „Legen Sie die rechte Hand auf Ihr Herz und sagen Sie: „Mein Geld arbeit hart für mich und verdient mehr und mehr Geld für mich!“
Entrüstung lässt mich das Buch mit einem wilden Schlag zuklappen. Es reicht! Dieses Thema ist so weit von meiner Lebensauffassung und meinem Lebenssinn entfernt, ich will und kann keine Brücke zu ihm bauen!!! Ich stelle die Bücher zurück.
Aufatmend flüchte ich in den Bereich der Kunst und atme endlich Freiheit, Vielschichtigkeit und Menschsein ein.



Donnerstag, 24. September 2015
Schreibzeiten - Wer wir sind
Von Lore Heller

„Schreibzeiten“,
so nennen wir uns.
Der Name sagt es schon: Wir nehmen uns Zeit und schreiben.

Wir sind 30 bis 40 Autorinnen, die sich 1 x in der Woche in kleinen Gruppen treffen.
Auf diese Weise sind bereits vier Bücher entstanden.

Unsere Geschichten lesen wir vor z.B. in Schulen, Seniorenstätten, Literatur-Cafés und Stadtmuseen.

Wir schreiben Erinnerungen, Erlebnisse und Ereignisse, die einerseits ganz persönlich sind, andererseits uns zu Zeitzeuginnen werden lassen; denn der geschichtliche Hintergrund läuft immer mit.
Es entstanden Fluchtgeschichten - wie aktuell,
Hungerleiden – immer aktuell auf unserer Erde,
Geschichten vom Krieg – auch die gibt es immer,
Geschichten von Freude – gehören zum Menschsein dazu,
aber auch von Not, u.U. in früheren Eltern-Kind-Beziehungen,
die von der Seele geschrieben worden sind
und dadurch eventuell zur Aufarbeitung von Traumatisierungen führen können.

Die Initiatorin
für unsere „Schreibzeiten“ , Frau Erny Hildebrand,
ist Psychotherapeutin, Journalistin, Netzwerkerin auf vielen Gebieten und eben auch
Schreibgruppenleiterin.

Als Motor und sensible Gedankenausstreuerin und Gedankensammlerin
wirkt sie als Motivationsstifterin für unsere nimmer müde werdende Schreiblust.
Im Vorwort zu einem unserer Bücher, für die sie auch Herausgeberin ist, schrieb sie:

„Schreiben heißt auch, sich selber lesen.“
„Diese Erfahrung von Max Frisch“, führt sie weiter aus, „geschieht auch immer wieder in den Biografie-Gruppen.
Im Schreiben fließt uns etwas aus der Feder, was aus unserem Innersten kommt.
Indem wir es auf Papier, also aus uns herausbringen, ist diese Erinnerung nicht mehr nur Teil von uns. Sie ist auch etwas Äußeres geworden, das wir lesen, weglegen und wieder hervorholen können. Sie ist zu etwas geworden, was wir vorlesen und teilen können.“



Mittwoch, 12. August 2015
Ob ich in München Spaß haben werde?
Von Rita Dietrich

Wir flogen im Schneetreiben los. Drei Tage lang die Stadt unsicher zu machen, macht bei 10 Grad minus besonderen Spaß. Im Hotel packten wir sofort unsere Heizkissen aus. Manfred hatte keine Ersatzschuhe mitgenommen, „vollkommen überflüssig“, war sein Kommentar. Bei Eisregen rannten wir über den Viktualienmarkt. Um uns aufzuwärmen, betraten wir ein Bekleidungsgeschäft, und ich sah mir ganz in Ruhe die Waren an. Auf einmal machte Manfred mich auf so komischen Dreck auf dem Boden aufmerksam, den er dann mit dem Fuß wegschob. „Die müssen hier mal sauber machen“, meinte er. Er setzte sich wartend in die Leseecke, sah sich um und entdeckte auch hier diesen merkwürdigen Dreck. „Die haben bestimmt noch nicht gekehrt. Was ist das hier überall? Komm, wir gehen, hier gefällt es mir nicht.“ Beim Hinausgehen entdeckten wir vor der Ladentür den gleichen seltsamen Schmutz.

Das Schneetreiben ließ nicht nach. Mit Riesenschritten eilten wir davon. „Wenn besseres Wetter wäre, hätte ich nicht so kalte Füße“, maulte Manfred. Er blieb zurück und tanzte vor Aufregung, als er seine „Hinterlassenschaft“ sah. „Schau Dir mal das Zeug an, was hinter uns liegt, das sieht genau so aus wie das in dem Laden“. Auf einmal stellte er fest, dass er auf
Socken lief. Die Sohlen seiner Schuhe fehlten. Ursprünglich waren es dicke Kreppsohlen gewesen. Die Reste lagen jetzt verteilt auf dem Markt, im Geschäft und überall da, wo wir rumgetrampelt waren.

Ich lachte Tränen, umso entsetzter war Manfred. Er wollte diese Situation gar nicht glauben. Seine Reaktion riss mich zu noch mehr Lachanfällen hin. Manfred humpelte auf das nächste Schuhgeschäft zu – natürlich geschlossen wegen Mittagspause. Das nächste war wegen Renovierung geschlossen. Im dritten referierte Manfred empört über die schlechte Qualität deutscher Schuhe. Dass seine Treter über 10 Jahre alt waren, ließ er weg. Ausgerechnet diese Schuhe hatte er mitgenommen, weil sie bequem und seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren.

Zuhause erzählten wir diese Geschichte unter Lachen einem Bekannten. Sein Kommentar in Richtung Manfred: „Wie blöd bist Du eigentlich? Ich kaufe meine Schuhe in Oxford!!“

Peng! Das saß! Diesen Satz mussten wir inhalieren.

Später erfuhren wir von einem Fachmann, dass der Weichmacher im Laufe von 10 Jahren aus den Sohlen entwichen war.



Freitag, 7. August 2015
Ankunft in einem neuen Leben
Von Ingrid Denzel

Ich schlendere durch das Bahnhofsgebäude über gepflegten Steinboden aus hellen Fliesen.Alles ist licht und weit. Auf jeder Seite gibt es Geschäfte, Lokale und Imbisse. hier könnte ich den ganzen Tag verbringen.Eine große Buchhandlung bietet alle nur erdenklichen Zeitschriften an.Selbst die internationale Presse ist weitgehend vertreten.Es gibt Bücher in großer Auswahl, Reiseführer, Bestseller, gebundene Bücher, Paperbacks,Kochbücher etc,etc.Außerdem Kleine Geschenke und Alle Sorten von Karten.
Es gibt Eine Parfümerie, eine Blumenhandlung, einen Schuhladen ,eine Apotheke,einen großen Drogeriemarkt. An jeder Ecke und auf dem gesamten Gang werden kulinarische Köstlichkeiten angeboten von Bratwurst über Backwaren , vom Sushi bis zur Pizza,aber auch deftige deutsche Küche von gesund bis bedenklich ist alles zu bekommen. Mir schwirrt der Kopf. Die vielen Menschen! Mir scheint, Menschen aller möglichen Nationen aller Altersstufen , die unterschiedlichsten sozialen Schichten treffen hier zusammen und eilen aneinander vorbei.Manche gehen zielstrebig mit ihren Rollkoffern zu ihrem Bahnsteig,andere halten an um nach oben auf die Monitore zu schauen,die Abfahrtszeiten und Bahnsteige anzeigen,um gleich darauf weiterzueilen oder die Richtung zu wechseln. Gruppen stehen in großen oder kleineren Pulks inmitten des Ganges,gestikulierend ,miteinander schwatzend oder laut lachend.Sie bilden Hindernisse für die eilende Menge.Wie an Felsen in der Brandung , so teilen sich die Vorübereilenden an ihnen.
Ich setze mich in eines der Lokale an einen Tisch, der an einem von der Decke bis zum Boden reichenden offenen Fenster steht, um das Treiben weiter zu beobachten und dabei meinen Gedanken nachzuspüren.Beim herumschlendern waren Erinnerungen in mir aufgestiegen. Wie hat sich doch alles verändert. In den Fünfziger Jahren, genauer gesagt 1954 mit knapp fünf Jahren kam ich hier an. Meine Mutter hatte mich aus Bad Pyrmont aus der Obhut meiner Großeltern abgeholt, bei denen ich fast ein Jahr gelebt hatte, während meine Eltern sich in Düsseldorf eingerichtet hatten. Hier hatten sie Arbeit gefunden, jetzt konnten wir hier zusammen als kleine Familie leben.
Wir kamen mit einem Zug an, der von einer zischenden, rußigen Dampflok gezogen wurde.Ich durfte möglichst nichts anfassen, weil es alles so schmutzig war. Ich sollte beim Aussteigen darauf achten, mit meiner Kleidung nicht die Außenfläche der Tür zu streifen. Gar nicht so einfach,ohne sich festzuhalten, den für mich breiten und tiefen Abgrund zwischen Trittstufe und Bahnsteig zu überwinden. Mein Vater holte uns ab, ein Lichtblick auf dem zugigen, dunklen Bahnsteig.Zuvor hatte er für zwanzig Pfennig eine Bahnsteigkarte lösen müssen,um durch die Sperre zu gelangen,die wir nun gemeinsam passieren durften, nachdem wir unsere Fahrkarte, einen hellbraunen ,rechteckigen kleinen Pappstreifen, dem Kontrolleur vorgezeigt hatten. Mit einer Zange wurde er mit einem weiteren Loch versehen. Eins hatte er schon im Zug bekommen.Mit unserem Gepäck mühten meine Eltern sich die steilen Stufen herunter. Rolltreppen oder gar einen Aufzug gab es nicht. Wir hätten natürlich einen Gepäckträger rufen können, aber der hätte ja Geld gekostet. Die Koffer hatten keine Rollen und es gab auch keine praktischen Wägelchen,mit denen man die Koffer durch den Bahnhof bis zur Straßenbahn hätte fahren können. Größeres Gepäck konnte man vorausschicken und bei der Gepäckabholung in Empfang nehmen. Auch die Bahnhofshalle sah völlig anders aus als heute . Der Gang dort hin war schmal und niedrig von trüben Neonröhren kaum erhellt. An den Bahnsteigen waren große Tafeln mit Ankunft und Abfahrtszeiten angebracht. Reklametafeln von der guten Wolle aus Gütersloh und Klosterfrau Melissengeist säumten den Weg.Die hohe Bahnhofshalle kam mir trotzdem gewaltig vor und es war aufregend für mich die vielen Menschen zu sehen.In Bad Pyrmont war alles soviel kleiner gewesen. Allein die vielen Fahrkartenschalter vor denen die Leute Schlange standen.Es gab eine Modelleisenbahn,die durch eine Modelllanschaft fuhr, wenn man einen Groschen in einen Schlitz steckte.
Den Bahnhof sollte ich in diesen Jahren noch öfter sehen, denn wir fuhren jedes Jahr in den Sommerferien in den Urlaub.Ein Auto besaßen wir nicht und Flugreisen waren unerschwinglich. Daher ist mir auch heute noch die Atmosphäre gegenwärtig. Er war zugleich ein Ort des Fernwehs,der Verheißung unbeschwerter Ferien an See und in den Bergen, aber auch ein Ort des Schmutzes, der nach Urin , nach abgestandenen Bier und kaltem Rauch riechenden Gänge, der finsteren Gestalten ,vor denen ich mich in Acht nehmen sollte.
Anfang der Sechzigerjahre standen Sonntags viele dunkelhaarige ,südländisch aussehende Männer in dunklen Anzügen in Gruppen zusammen in der großen Bahnhofshalle.Sie sprachen in einer schnellen, für uns unverständlichen Sprache gestikulierten und Pfiffen uns jungen Mädchen hinterher. Sie waren nicht sonderlich beliebt in der Gesellschaft.Von Spaghettifressern und Gigolos war die Rede. Erst später verstand ich, dass die Gastarbeiter sich hier trafen. Heimwehkrank suchten sie hier die Gemeinschaft von Landsleuten in der Nähe der Züge, die aus ihrer Heimat kamen Es gab auch ein Kino in der Gegend des Nordausgangs, das Akki. Dort wurden in einer Endlosschleife Kurz-und Zeichentrickfilme,Dick und Doof und Fox tönende Wochenschau gezeigt.An verregneten Sonntagen war es ein beliebtes Ziel für meinen Vater und mich.
Später als Teenie ging ich ab und zu mit einem Freund dorthin.Allerdings waren die Filme dann Nebensache.
Jetzt sitze ich hier an meinem Tisch am offenen Fenster und schaue auf den Gang.Gezeitenartig brandet die Menschenwoge aus dem gerade angekommenen Zug die Treppen herunter, zerstiebt an ihrem Fuß in verschiedene Richtungen,verteilt sich und verebbt,bis nur noch einzelne Personen nachtröpfeln ,manche wie Treibgut an den Rändern stehenbleiben, auf etwas warten,oder sich orientieren. Dann ist es für eine Weile ruhig auf dem Gang, bis eine neue Woge sich den Weg bahnt.



Dienstag, 4. August 2015
Ober- und Unterwelt
Von Christa Anderski

Da liegt er vor mir, der Bahnhof, lang gestreckt mit einem Uhrenturm. Durch seine Türen fluten Menschen. Ich lasse mich hineintreiben, gleite über die Rolltreppe hinauf auf den Bahnsteig.
Ein schriller Pfiff, gefolgt vom monotonen Piepen der sich schließenden Zugtüren, sie knallen zu und quetschen ein „fuck you“ eines verspäteten Reisenden ein.
Der Zug rollt an und lässt einen Vater mit Sohn am Bahnsteig zurück. Sie winken. Sie winken noch, als der Zug schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Der Schatten eines einfahrenden Zuges verdunkelt den Bahnsteig. Ein Lautsprecher verkündet laut seine Ankunft. Menschen eilen zur Bahnsteigkante und schauen dem Zug verlangend entgegen. Bremsen quietschen. Dann wieder das monotone Piepen der sich öffnenden Türen. Menschen strömen heraus, eine menschliche Flutwelle ergießt sich über den Bahnsteig. Koffer rollen über den harten Boden. Worte gleiten aneinander vorbei. „Gute Reise!“ kreuzt ein „Schön, dass du da bist!“ Grelles Grölen überschwemmt den Bahnsteig und verschlingt jedes gesprochene Wort, sei es türkisch, japanisch, polnisch oder deutsch. Aktentaschen, Rucksäcke, Metall- und Lederkoffer verraten die Absicht der Reisenden.
Menschen stehen und warten. Sie warten auf den richtigen Anschluss. Einige lesen, andere starren auf ihr smartphone, wieder andere starren ängstlich auf die Anzeigetafel, als ob ihr Leben davon abhinge. Menschen mit Knopf im Ohr unterhalten sich mit unsichtbaren Partnern, andere beugen sich zu ihrem Nachbarn, Augen und Mund sprechen miteinander.
Füße tippen ungeduldig gegen den Boden. Taube schreckt auf. Ein Zug fährt ein, ein Zug macht sich bereit. Sie begegnen sich kurz. Bremsen lösen sich, während auf der anderen Seite Bremsen zum Anhalten quietschen. Türen öffnen sich. Türen schließen sich. Menschen steigen ein. Menschen steigen aus. Alles im gleichen Atemzug. Züge gleiten aneinander vorüber. Lebenspuls des Bahnhofs.
Bahnsteig- ein unablässiges Kommen und Gehen, Lachen und Weinen, Trauer und Freude, Abschied und Ankunft in stetigem Fluss. Wind peitscht Abschiedsschmerz vom Bahnsteig, Regen spült die letzten Spuren fort. Ich wische mir eine Regenträne aus dem Auge, kehre dem pulsierenden Bahnsteig den Rücken und steige in die Unterwelt.

Rolltreppen führen mich nach unten. Ich erreiche den U-Bahnhof und setze mich auf seinen Bahnsteig. Ein wie viel leiserer Platz: Bahn gleitet leise herein, Anzeigetafeln verkünden schweigend die Ankunft, schwarzer Noppenboden dämpft hastige Schritte. Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. Leise setzt die Bahn ihre Fahrt fort.
Stille. Neue Einkaufstüten stellen sich neben Füße, die geduldig warten. Kinderwagen und Hunde an ihrer Seite. Alle warten auf die Bahn, die sie nach Hause bringen soll. Stille, Warten. Vom hastigen Puls, vom Sturm der Oberwelt ist hier nichts zu spüren. Keine Regenträne, kein Windpeitschen.
Endlich eine Bahn. Sie bremst, ein kurzes Fauchen, dann entlässt sie die Menschen. Zielgerichtete Schritte bringen die Menschen zur Rolltreppe. Der Zug fährt fast unhörbar los. Der Bahnsteig atmet auf. Er schweigt und lauscht dem Reden der wartenden Menschen. Er bewacht den Schlaf der Menschen, die in seinen silbernen Sesseln die Augen geschlossen haben. Er lächelt leise den Kinder zu, die um seine Säulen Nachlaufen spielen.
Ein Platz der Ruhe, ein Platz der Heimkehr. Auch ich mache mich auf, aus der Unterwelt des Bahnhofs aufzutauchen und nach Hause zurückzukehren.



Samstag, 9. Mai 2015
Dem Neuen entgegen leben
Biografische Texte zum Umgang mit Kriegs- und Nachkriegserlebnissen
Sie brechen das Schweigen. 32 Kriegskinder und –enkel, Frauen im Alter zwischen 52 und 88 Jahren, haben sich anderthalb Jahre lang damit beschäftigt, welche Spuren Kriegs- und Nachkriegserlebnisse in ihrem Leben hinterlassen haben. In der Anthologie „Dem Neuen entgegen leben“ haben sie dabei entstandene Texte gesammelt, die anhand des persönlichen Erlebens Antworten auf viele Fragen geben wie zum Beispiel: Wie wurde das Erlebte in die Familie weitergegeben? Was konnte verarbeitet werden? Welche Erlebnisse geistern auch heute noch manchmal als Erinnerung durch Traum und Tag? Was hat das Schweigen in der Familie bewirkt? Die Antworten darauf sind so verschieden wie die Autorinnen, die ihre Kindheit und Jugend in Schlesien, Ostpreußen, dem Rheinland, in Hessen, Bayern oder Berlin verbracht haben.
Die persönlichen Antworten sind zugleich Anregung für die Leserinnen und Leser selbst den Webmustern der eigenen familiären Vergangenheit nachzugehen. Dabei fängt die Spurensuche oft im Alltäglichen an: Das Foto eines Großvaters, den man nie kennenlernen konnte, die vertrockneten Blätter einer Eiche oder die Übung von Tieffliegern an einem schönen Sommertag – manchmal genügt ein Augenblick, um Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit wieder lebendig werden zu lassen.
In ihren autobiografischen Texten greifen die Autorinnen der Gruppe „Schreibzeiten“ solche Erinnerungsfäden auf und folgen ihrer Spur soweit es möglich ist. Die geschilderten Erfahrungen und Verarbeitungsprozesse sind dabei so verschieden wie die Autorinnen selbst. Die älteren von ihnen erinnern sich an Flucht und Vertreibung, andere an die Armut in zerbombten Städten oder das Ende der Schreckensherrschaft. Was davon macht sich noch heute bemerkbar in Lebenseinstellungen, Albträumen oder Überzeugungen? Die Jüngeren gehen dem Schweigen in der Familie nach. Warum erzählten die Eltern so wenig? Warum fragten sie nicht? Was hat das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, mit ihnen gemacht?
Die gemeinsame Spurensuche war ein Prozess, der sich in vielen Gesprächen innerhalb der Schreibgruppe und auch in stillen Stunden zu Hause entwickelt hat. Er war nicht immer leicht, aber er war immer fruchtbar. Erste Antworten wurden gefunden, oft auch ein neues Verständnis für den eigenen Lebensweg. Gefunden haben die Autorinnen auch Versöhnliches und Verbindendes, manchmal auch dort, wo sie es gar nicht vermutet haben. Das Schreiben und Sammeln der Texte hat bei ihnen Erinnerungs- und Verarbeitungsprozesse ausgelöst. Es hat das belastende Schweigen gebrochen und vor allem eine befreiende Wirkung entfaltet. Dies wünschen sie auch den Leserinnen und Lesern.

Das neueste Buch der Autorinnengruppe "Schreibzeiten", in der wir versuchen, den persönlichen Folgen und Konsequenzen der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse nachzuspüren

Anthologie

Dem Neuen entgegen leben
Biografische Texte zum Umgang
mit Kriegs- und Nachkriegserlebnissen
Hrsg.: Erny Hildebrand
242 Seiten, 14,- Euro
Engelsdorfer Verlag
ISBN: 978-3-95744-338-0