Sonntag, 14. Februar 2016
Entkommen
Christa Anderski

Glastüren öffnen sich vor mir. Ich schreite hindurch und befinde mich in einem riesigen Raum. Hunderttausend Gegenstände blicken mir entgegen. Überall ein Blinken und ein Funkeln. Alles im Raum versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Verwirrt bleibe ich stehen. In diesem Augenblick ertönt die durchdringende Stimme eines Lautsprechers und drängt sich mir auf: „ Herzlich willkommen! Heute haben wir tolle und exklusive Angebote für Sie!“ Die Stimme zwingt mir den allgemeinen Kurs des Hauses auf. Wie wild winken mir plötzlich die Preisschilder mit ihren Rabattangeboten zu. Sie locken mit ihren feinen, aber unüberhörbaren Stimmen: „Kauf mich, kauf mich!“ und durchbohren mich wie Pfeile. Ich krümme mich, um ihrem beschwörenden Zwang zu entkommen. So wie damals die Gefährten von Odysseus verstopfe auch ich mir gegen den Sirenengesang des Hauses die Ohren.
Mein Blick fällt auf die Menschen, die mich in den Gängen streifen. Die einen schlendern suchend, andere wiederum hasten zielstrebig auf ein bestimmtes Ziel zu. Es sind junge Familien, ältere Ehepaare, langjährige Freundinnen. Ihnen allen gemeinsam ist der verlangende, stetig herumirrende und angespannte Ausdruck ihrer Augen. Ich merke, dass ich mich immer mehr verschließe. Ich fühle den stetigen Druck des Hauses auf mir lasten. Er lässt mir keinen Moment der Besinnung und zwingt mir Vorgefertigtes und Trendiges auf.

Da entdecke ich vor mir ein Schild: „Entfalte dich!“ Es weist auf eine Abteilung hin, die mit dem Wort „Freistil“ bezeichnet wird. Eine Woge der Erlösung überkommt mich, und ich haste dieser Abteilung entgegen. Ist dies endlich der Ort, an dem ich Zuflucht vor dem permanenten Kaufzwang finden kann? Ein Platz, wo ich vor den abertausend Reizen geschützt bin? In mir entsteht das Bild eines stillen Raumes, in dem keine Forderungen, keine Zwänge mich bedrängen. Ein Ort, an dem ich mich frei entfalten kann. Vielleicht gibt es dort sogar einen Mensch, der mit mir gemeinsam in aller Ruhe meine Vorstellungen für einen Schrank entwickelt und ihn sogar nach meinen Wünschen bauen wird. Einen Schrank, der mit meinen anderen Möbeln zu Hause harmoniert. Zu dem großen Leinenschrank meiner Großmutter, in dem sie ihr Linnen fein säuberlich ordnete, zu dem breiten schwarzen Schreibtisch meines Großvaters, von dem aus er, Pfeife rauchend, die Geschicke der Familie lenkte. Auch der hohe schwarze Bücherschrank, aus dessen Glasfenster viele Bücher neugierig in die Welt schauen, sehnt sich wie ich nach einem Schrank, mit dem er über alte Zeiten, Familie und den Geburtstag des Kaisers sprechen kann.
Voller Hoffnung trete ich in die Freistilabteilung und fahre entsetzt zurück. Metallisch glänzende Totenköpfe, goldene Hirschgeweihe und buntschreiende Bilder grinsen mich an. Ich drehe mich um und flüchte auf die Dachterrasse des Restaurants. Dort an der kalten, frischen Luft atme ich durch. Endlich Ruhe! Nichts und niemand bedrängt mich, allein der Wind berührt mich. Befreit strecke ich meine Arme aus. Da ergreifen mich tief fliegende Wolken und tragen mich in ein Land, in dem ich mich und meine inneren Bedürfnisse hören und entfalten kann.

Ort: Möbelhaus Schaffrath



Freitag, 2. Oktober 2015
Mutter Holunder
Von Ingrid Denzel

Wenn ich eine Buchhandlung sehe, schaffe ich es selten, daran vorbeizugehen, ohne wenigstens einen Blick ins Schaufenster zu werfen oder die auf Tischen ausgestellten Bücher zu betrachten.
Egal in welchem Land oder welcher Stadt ich mich befinde, ob in Kopenhagen, Paris, London oder Madrid muss ich einfach stehen bleiben oder hineingehen. Am liebsten hineingehen, denn jeder Laden hat seine spezifische Ausstrahlung.
Ich mag die Antiquariate mit den strengen deckenhohen Regalen voller ledergebundener alten Bücher, den Geruch von Staub und altem Papier, der mich auf magische Art in die Vergangenheit versetzen kann. Oft haben die Inhaber dieser Läden selbst etwas Antiquarisches, in ihren Pullundern, die sie über gelblichen Hemden tragen, das schüttere Haar sorgsam gekämmt und das Gesicht verblasst, weil sie den Tag hier drinnen verbringen. Vorsichtig und behutsam gehen sie mit den alten Büchern um, fast zärtlich wenden sie das fragile vergilbte Papier. Die Umgebung verschwindet aus meinem Bewusstsein, wenn ich mich in so ein Buch vertiefe und die Zeit verrinnt ohne mich.
Daran muss ich gerade denken, gerade jetzt, wo ich in einer hellen, modernen, großen Buchhandlung, ausgestattet mit allem Komfort der Neuzeit sitze. Ich bin umgeben von unzähligen Büchern aus allen Lebensbereichen. Rolltreppen bringen mich in die einzelnen Stockwerke, deren jedes unterschiedlichen Gebieten gewidmet ist. Überall gibt es etwas zu entdecken, nicht nur Bücher auch Geschenkartikel, witzige Becher mit ebensolchen Sprüchen, Bleistifte, Hefte, Plüschtiere, Geschenkpapier. Eine unglaubliche Fülle von Dingen, die alle schreien: Schau her,kannst du mich nicht gebrauchen? Fehle ich dir nicht? Sieh doch, wie süß ich bin! Kauf mich!-HILFE!!!- Etwas erschöpft von diesem Überangebot begebe ich mich nach oben ins Café. Ich kaufe mir einen Cappuccino, setze mich in einen der gemütlichen Sessel, und habe das Bedürfnis gar nichts zu tun und nichts mehr anzuschauen. Menschen sitzen hier in meiner Nähe, Einer beschäftigt mit dem Smartphone, eine Frau liest Zeitung. Jemand blättert in einem schön bebilderten Kochbuch. Ein Vater mit Kind macht Pause bei Smoothie und Pannini. Sie warten auf Mama, die eine Bluse kaufen wollte. Es wird gut angenommen, dieses Café. Auch in der gesamten Buchhandlung herrscht reger Betrieb.
Wie anders ist hier die Atmosphäre, als die vorher geschilderte , in dem es immer so wirkt, als sei der Buchhändler eigentlich der Hüter seiner Schätze und bedauere fast, eines der Bücher zu verkaufen.
Während ich sitze und sinniere, kommt eine ältere Dame auf mich zu."Darf ich mich zu Ihnen setzen?" fragt sie und deutet auf den Sessel neben mir. "Selbstverständlich", antworte ich und denke, 'Wenn Du die Klappe hältst'. "Ich störe sie auch nicht mit Gequatsche", sagt sie, als habe sie meine Gedanken erraten. Ich nicke.
Sie hat ein Buch aus einem der Regale geholt und schlägt es auf. Augenblicklich umweht mich ein leichter Duft von Holunder Blüten. Ob sie so ein Parfüm trägt? Sie lächelt kaum merklich. Der Duft wird stärker. Ich schließe die Augen. Ja, kein Zweifel, so duftet Holunder im Frühjahr. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen grünen üppigen Busch mit weißen Bütendolden übersät. Ich höre Vögel zwitschern. Kann Fantasie so stark sein? Seidenblauer Himmel überspannt eine saftig grüne Wiese, Enten führen winzige gelbe Küken spaziere. Ein Teich spiegelt den Himmel. Es ist Frühling."Ja", höre ich eine Stimme "Fantasie kann so stark sein. Das weißt Du doch! Hast Du nicht oft beim Lesen die Zeit vergessen, den Ort gewechselt? Erinnere Dich an die Geschichte von Nils Holgerson, an die Märchen von Christian Andersen, von Hauff, an die Bücher von Karl May. Du bist über Landschaften geflogen, warst im Orient, hast geweint über das Schicksal der kleinen Meerjungfrau, hast im Mondschein getanzt. Du warst in Prärien und in der Wüste. Kraft Fantasie kannst Du überall hin, du bist nie allein, solange Du eintauchen kannst in Geschichten"
"Stimmt", denke ich und mir kommt Mutter Holunder in den Sinn. Ich öffne die Augen, um die Dame zu fragen, ob sie Mutter Holunder kennt.- Der Sessel neben mir ist leer.



Mittwoch, 30. September 2015
Das Ringen um das Unbekannte
Christa Anderski

Ort: Mayersche Buchhandlung

Ich betrete das Weltreich der Bücher. Tausend, abertausende Bücher kreuzen meinen Weg. Sie rufen und locken mich. Ich will ihnen nicht folgen, denn heute bin ich auf der Suche nach dem Unbekannten. Meine Schritte führen mich vorbei an den Regalen, die mit Architektur, Medizin und Reisen beschriftet sind. Auch Romane und Krimis lasse ich links liegen. Vieles ist mir dort bekannt. Ich gehe weiter. Plötzlich taucht vor mir ein großes Regal auf, von dessen roter Aufschrift mir sehr viel Fremdes entgegenweht. Die Buchstaben künden von Bank – Börse und Aktien. Ich verspüre den Hauch des Unbekannten. Noch nie habe ich ein Buch aus dieser Sparte aufgeschlagen.

Ich bleibe stehen und tauche ein in das gänzlich Unbekannte. Sofort springt mir der Titel eines Buches in die Augen: „Der Wolf in der Wall Street“. Ja, das ist es! Er bestätigt mich in meinem Vorurteil. Bank und Börse sind ein grausames Geschäft. Wer schwach ist, wird von den Starken zerrissen. Man geht über Leichen, um das einzige Ziel, den Reichtum, zu erreichen.
Der zweite Buchtitel, den ich erblicke, stärkt mich in dieser Einstellung. „Schnelles Geld, wie man einfach reich werden kann.“ Meine Gedanken driften zur aktuellen Tageskrise. VW betrügt Behörden und Menschen, nur um seinen Gewinn zu maximieren. Ehrlichkeit und Moral bleiben auf der Strecke.
Ich atme tief durch und nehme ein anderes Buch in die Hand. „Die Kunst über Geld nachzudenken“. Vielleicht kann es mir die fremde Lebenseinstellung näherbringen. Der Autor, ein „Börsenguru“, will in diesem Buch der Faszination des Geldes nachspüren. Er schreibt: „So mancher Spekulant verliebt sich so sehr in die Börse, dass er für nichts anderes mehr einen Sinn hat.“ Ja, genau, das ist das, was ich so verabscheue! Ich lese weiter: „Die Betroffenen sind zu bedauern; wie eintönig ist das Leben ohne den Genuss an Essen, Trinken, schönen Frauen und natürlich der Musik“. Unmut überkommt mich, das soll der Lebenssinn eines Menschen sein? Das ist mir zu wenig!
Es wirkt auf mich wie ein Leben mit Scheuklappen, alles wird aus dem Leben ausgesperrt bis auf das Ziel: Geld anhäufen. Das ist für mich ein leeres, kaltes Leben, das allein mit Zahlen und der Jagd nach Reichtum ausgefüllt ist.
Ich lese trotzdem weiter und finde mich bald in dem Dickicht von Geboten und Verboten, von Insider-Tipps und Börsen Crashs nicht mehr zurecht. Die Faszination, der der Autor dabei empfindet, springt nicht auf mich über.
Entnervt nehme ich das nächste Buch zur Hand: „So denken Millionäre.“ Vielleicht finde ich durch dieses Buch endlich einen Weg zum besseren Verständnis dieser Welt. Zwar lässt mich der Untertitel: „Die Beziehung zwischen Ihrem Kopf und Ihrem Kontostand“ ein wenig daran zweifeln, ebenso der Satz: „Glauben Sie kein Wort von dem, was ich sage!“
Nichtsdestotrotz lese ich weiter und stoße auf den Satz: „Meine innere Welt erschafft meine äußere Welt. Fassen Sie sich nun an den Kopf und sagen Sie: „Ich denke wie ein Millionär.“

Aber damit ist noch nicht getan. Der Autor führt aus, dass persönliche Verhaltensmuster bezüglich Geld und Erfolg schon in der Kindheit falsch programmiert werden. Deshalb muss man folgenden Satz laut sprechen: „Nimm eine neue Denkstruktur an, eine die dein Glück und deinen Erfolg unterstützt“.
Wut steigt in mir auf. Jetzt werden schon psychologische Denkansätze und psychologische Methoden angewandt, um sie dem einzigen Ziel „Reichtum“ unterzuordnen.
Doch die nächste Deklaration setzt dem Ganzen die Krone auf. „Legen Sie die rechte Hand auf Ihr Herz und sagen Sie: „Mein Geld arbeit hart für mich und verdient mehr und mehr Geld für mich!“
Entrüstung lässt mich das Buch mit einem wilden Schlag zuklappen. Es reicht! Dieses Thema ist so weit von meiner Lebensauffassung und meinem Lebenssinn entfernt, ich will und kann keine Brücke zu ihm bauen!!! Ich stelle die Bücher zurück.
Aufatmend flüchte ich in den Bereich der Kunst und atme endlich Freiheit, Vielschichtigkeit und Menschsein ein.



Freitag, 7. August 2015
Ankunft in einem neuen Leben
Von Ingrid Denzel

Ich schlendere durch das Bahnhofsgebäude über gepflegten Steinboden aus hellen Fliesen.Alles ist licht und weit. Auf jeder Seite gibt es Geschäfte, Lokale und Imbisse. hier könnte ich den ganzen Tag verbringen.Eine große Buchhandlung bietet alle nur erdenklichen Zeitschriften an.Selbst die internationale Presse ist weitgehend vertreten.Es gibt Bücher in großer Auswahl, Reiseführer, Bestseller, gebundene Bücher, Paperbacks,Kochbücher etc,etc.Außerdem Kleine Geschenke und Alle Sorten von Karten.
Es gibt Eine Parfümerie, eine Blumenhandlung, einen Schuhladen ,eine Apotheke,einen großen Drogeriemarkt. An jeder Ecke und auf dem gesamten Gang werden kulinarische Köstlichkeiten angeboten von Bratwurst über Backwaren , vom Sushi bis zur Pizza,aber auch deftige deutsche Küche von gesund bis bedenklich ist alles zu bekommen. Mir schwirrt der Kopf. Die vielen Menschen! Mir scheint, Menschen aller möglichen Nationen aller Altersstufen , die unterschiedlichsten sozialen Schichten treffen hier zusammen und eilen aneinander vorbei.Manche gehen zielstrebig mit ihren Rollkoffern zu ihrem Bahnsteig,andere halten an um nach oben auf die Monitore zu schauen,die Abfahrtszeiten und Bahnsteige anzeigen,um gleich darauf weiterzueilen oder die Richtung zu wechseln. Gruppen stehen in großen oder kleineren Pulks inmitten des Ganges,gestikulierend ,miteinander schwatzend oder laut lachend.Sie bilden Hindernisse für die eilende Menge.Wie an Felsen in der Brandung , so teilen sich die Vorübereilenden an ihnen.
Ich setze mich in eines der Lokale an einen Tisch, der an einem von der Decke bis zum Boden reichenden offenen Fenster steht, um das Treiben weiter zu beobachten und dabei meinen Gedanken nachzuspüren.Beim herumschlendern waren Erinnerungen in mir aufgestiegen. Wie hat sich doch alles verändert. In den Fünfziger Jahren, genauer gesagt 1954 mit knapp fünf Jahren kam ich hier an. Meine Mutter hatte mich aus Bad Pyrmont aus der Obhut meiner Großeltern abgeholt, bei denen ich fast ein Jahr gelebt hatte, während meine Eltern sich in Düsseldorf eingerichtet hatten. Hier hatten sie Arbeit gefunden, jetzt konnten wir hier zusammen als kleine Familie leben.
Wir kamen mit einem Zug an, der von einer zischenden, rußigen Dampflok gezogen wurde.Ich durfte möglichst nichts anfassen, weil es alles so schmutzig war. Ich sollte beim Aussteigen darauf achten, mit meiner Kleidung nicht die Außenfläche der Tür zu streifen. Gar nicht so einfach,ohne sich festzuhalten, den für mich breiten und tiefen Abgrund zwischen Trittstufe und Bahnsteig zu überwinden. Mein Vater holte uns ab, ein Lichtblick auf dem zugigen, dunklen Bahnsteig.Zuvor hatte er für zwanzig Pfennig eine Bahnsteigkarte lösen müssen,um durch die Sperre zu gelangen,die wir nun gemeinsam passieren durften, nachdem wir unsere Fahrkarte, einen hellbraunen ,rechteckigen kleinen Pappstreifen, dem Kontrolleur vorgezeigt hatten. Mit einer Zange wurde er mit einem weiteren Loch versehen. Eins hatte er schon im Zug bekommen.Mit unserem Gepäck mühten meine Eltern sich die steilen Stufen herunter. Rolltreppen oder gar einen Aufzug gab es nicht. Wir hätten natürlich einen Gepäckträger rufen können, aber der hätte ja Geld gekostet. Die Koffer hatten keine Rollen und es gab auch keine praktischen Wägelchen,mit denen man die Koffer durch den Bahnhof bis zur Straßenbahn hätte fahren können. Größeres Gepäck konnte man vorausschicken und bei der Gepäckabholung in Empfang nehmen. Auch die Bahnhofshalle sah völlig anders aus als heute . Der Gang dort hin war schmal und niedrig von trüben Neonröhren kaum erhellt. An den Bahnsteigen waren große Tafeln mit Ankunft und Abfahrtszeiten angebracht. Reklametafeln von der guten Wolle aus Gütersloh und Klosterfrau Melissengeist säumten den Weg.Die hohe Bahnhofshalle kam mir trotzdem gewaltig vor und es war aufregend für mich die vielen Menschen zu sehen.In Bad Pyrmont war alles soviel kleiner gewesen. Allein die vielen Fahrkartenschalter vor denen die Leute Schlange standen.Es gab eine Modelleisenbahn,die durch eine Modelllanschaft fuhr, wenn man einen Groschen in einen Schlitz steckte.
Den Bahnhof sollte ich in diesen Jahren noch öfter sehen, denn wir fuhren jedes Jahr in den Sommerferien in den Urlaub.Ein Auto besaßen wir nicht und Flugreisen waren unerschwinglich. Daher ist mir auch heute noch die Atmosphäre gegenwärtig. Er war zugleich ein Ort des Fernwehs,der Verheißung unbeschwerter Ferien an See und in den Bergen, aber auch ein Ort des Schmutzes, der nach Urin , nach abgestandenen Bier und kaltem Rauch riechenden Gänge, der finsteren Gestalten ,vor denen ich mich in Acht nehmen sollte.
Anfang der Sechzigerjahre standen Sonntags viele dunkelhaarige ,südländisch aussehende Männer in dunklen Anzügen in Gruppen zusammen in der großen Bahnhofshalle.Sie sprachen in einer schnellen, für uns unverständlichen Sprache gestikulierten und Pfiffen uns jungen Mädchen hinterher. Sie waren nicht sonderlich beliebt in der Gesellschaft.Von Spaghettifressern und Gigolos war die Rede. Erst später verstand ich, dass die Gastarbeiter sich hier trafen. Heimwehkrank suchten sie hier die Gemeinschaft von Landsleuten in der Nähe der Züge, die aus ihrer Heimat kamen Es gab auch ein Kino in der Gegend des Nordausgangs, das Akki. Dort wurden in einer Endlosschleife Kurz-und Zeichentrickfilme,Dick und Doof und Fox tönende Wochenschau gezeigt.An verregneten Sonntagen war es ein beliebtes Ziel für meinen Vater und mich.
Später als Teenie ging ich ab und zu mit einem Freund dorthin.Allerdings waren die Filme dann Nebensache.
Jetzt sitze ich hier an meinem Tisch am offenen Fenster und schaue auf den Gang.Gezeitenartig brandet die Menschenwoge aus dem gerade angekommenen Zug die Treppen herunter, zerstiebt an ihrem Fuß in verschiedene Richtungen,verteilt sich und verebbt,bis nur noch einzelne Personen nachtröpfeln ,manche wie Treibgut an den Rändern stehenbleiben, auf etwas warten,oder sich orientieren. Dann ist es für eine Weile ruhig auf dem Gang, bis eine neue Woge sich den Weg bahnt.



Dienstag, 4. August 2015
Ober- und Unterwelt
Von Christa Anderski

Da liegt er vor mir, der Bahnhof, lang gestreckt mit einem Uhrenturm. Durch seine Türen fluten Menschen. Ich lasse mich hineintreiben, gleite über die Rolltreppe hinauf auf den Bahnsteig.
Ein schriller Pfiff, gefolgt vom monotonen Piepen der sich schließenden Zugtüren, sie knallen zu und quetschen ein „fuck you“ eines verspäteten Reisenden ein.
Der Zug rollt an und lässt einen Vater mit Sohn am Bahnsteig zurück. Sie winken. Sie winken noch, als der Zug schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Der Schatten eines einfahrenden Zuges verdunkelt den Bahnsteig. Ein Lautsprecher verkündet laut seine Ankunft. Menschen eilen zur Bahnsteigkante und schauen dem Zug verlangend entgegen. Bremsen quietschen. Dann wieder das monotone Piepen der sich öffnenden Türen. Menschen strömen heraus, eine menschliche Flutwelle ergießt sich über den Bahnsteig. Koffer rollen über den harten Boden. Worte gleiten aneinander vorbei. „Gute Reise!“ kreuzt ein „Schön, dass du da bist!“ Grelles Grölen überschwemmt den Bahnsteig und verschlingt jedes gesprochene Wort, sei es türkisch, japanisch, polnisch oder deutsch. Aktentaschen, Rucksäcke, Metall- und Lederkoffer verraten die Absicht der Reisenden.
Menschen stehen und warten. Sie warten auf den richtigen Anschluss. Einige lesen, andere starren auf ihr smartphone, wieder andere starren ängstlich auf die Anzeigetafel, als ob ihr Leben davon abhinge. Menschen mit Knopf im Ohr unterhalten sich mit unsichtbaren Partnern, andere beugen sich zu ihrem Nachbarn, Augen und Mund sprechen miteinander.
Füße tippen ungeduldig gegen den Boden. Taube schreckt auf. Ein Zug fährt ein, ein Zug macht sich bereit. Sie begegnen sich kurz. Bremsen lösen sich, während auf der anderen Seite Bremsen zum Anhalten quietschen. Türen öffnen sich. Türen schließen sich. Menschen steigen ein. Menschen steigen aus. Alles im gleichen Atemzug. Züge gleiten aneinander vorüber. Lebenspuls des Bahnhofs.
Bahnsteig- ein unablässiges Kommen und Gehen, Lachen und Weinen, Trauer und Freude, Abschied und Ankunft in stetigem Fluss. Wind peitscht Abschiedsschmerz vom Bahnsteig, Regen spült die letzten Spuren fort. Ich wische mir eine Regenträne aus dem Auge, kehre dem pulsierenden Bahnsteig den Rücken und steige in die Unterwelt.

Rolltreppen führen mich nach unten. Ich erreiche den U-Bahnhof und setze mich auf seinen Bahnsteig. Ein wie viel leiserer Platz: Bahn gleitet leise herein, Anzeigetafeln verkünden schweigend die Ankunft, schwarzer Noppenboden dämpft hastige Schritte. Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. Leise setzt die Bahn ihre Fahrt fort.
Stille. Neue Einkaufstüten stellen sich neben Füße, die geduldig warten. Kinderwagen und Hunde an ihrer Seite. Alle warten auf die Bahn, die sie nach Hause bringen soll. Stille, Warten. Vom hastigen Puls, vom Sturm der Oberwelt ist hier nichts zu spüren. Keine Regenträne, kein Windpeitschen.
Endlich eine Bahn. Sie bremst, ein kurzes Fauchen, dann entlässt sie die Menschen. Zielgerichtete Schritte bringen die Menschen zur Rolltreppe. Der Zug fährt fast unhörbar los. Der Bahnsteig atmet auf. Er schweigt und lauscht dem Reden der wartenden Menschen. Er bewacht den Schlaf der Menschen, die in seinen silbernen Sesseln die Augen geschlossen haben. Er lächelt leise den Kinder zu, die um seine Säulen Nachlaufen spielen.
Ein Platz der Ruhe, ein Platz der Heimkehr. Auch ich mache mich auf, aus der Unterwelt des Bahnhofs aufzutauchen und nach Hause zurückzukehren.