Dienstag, 10. Juli 2018
Schreiben auf der Bühne


Ich schaue dich an
auf deiner Bühne,
distanziert, skeptisch, erstaunt
und weiß,
diese, deine Rolle
möchte ich nicht haben.

Du schaust mich an,
fordernd, klagend, stumm.
Schon wieder habe ich
den Text vergessen,
den du von mir erwartest.

Wie, frage ich mich,
kann es uns gelingen,
das Stück umzuschreiben?

Erny Hildebrand



Sonntag, 1. April 2018
Ein magisch-kryptischer Ort
Artikelbild Krypta

Aus den schwarzen Tiefen eines Kellers erhebt sich das Firmament. Abertausend Sterne funkeln dir entgegen. Du atmest Weite, du, ein winziger Punkt in der Unendlichkeit des Weltalls.
Plötzlich gleißendes Licht. Sonne erstrahlt. Sie umarmt dich siebenringig mit ihrer leuchtenden Kraft. Ihre Mächtigkeit erfüllt den Raum. Sie spiegelt sich in den dunklen Wassern der Erde und breitet sich aus über die Kontinente der Welt.
Aus dem Auge der Dreifaltigkeit strömt der Heilige Geist in die Sonne und vermählt sich mit ihr.
Sphärische Klänge umspielen die goldenen Engel, die das blaue Christenkreuz verbergen.
Zeit und Raum heben sich auf und verkündigen die Ewigkeit. Die Ewigkeit des Seins, die dich versöhnt mit deinem kurzen menschlichen Leben.
Du, ein einziger Wimpernschlag der Ewigkeit, bist geborgen in der Allmacht des Seins, in der Unendlichkeit des Alls und in der Einheit der Wesenheit.

Christa Anderski



Mittwoch, 28. März 2018
In einer Krypta
Mit der Schreibgruppe "Schreiben an ungewöhnlichen Orten" haben wir die Krypta in der Düsseldorfer Musikhochschule besucht. Der folgende Text enthält einen ersten Eindruck davon.

Kryptisch! Wir sehen überall Geheimnisse
Und wollen alles erklären.
Es ist, wie es ist!
Es ist, was es ist!
Und dann wollen wir glauben.

Einer, der meint, er habe die Welt verstanden.
Hat er gar keine Zweifel?
Zweifellos kann ich nicht sein.
Musik ist Harmonie -
aber was wäre sie ohne Disharmonien?

Der das Geld gibt
gibt das Bild vor
das Kreuz wie ein Schwert
das schon so viel Leid auslöste
versteckt
hinter Türen aus Gold
bewacht von Engeln aus Goldwasser

Musikstudenten nutzen die Krypta nicht.
Wie sehen ihre Andachtsräume aus?
Hätte man sie vorher fragen sollen?

Erny Hildebrand



Mittwoch, 14. Februar 2018
Schreiben an ungwöhnlichen Orten
Neue Termine für Schreiben an ungewöhnlichen Orten:

Jeweils Montags nachmittags:

05. März
o7. Mai
02. Juli
03. September
05. November

Uhrzeit wird Treffpunkt wird kurzfristig bekannt gegeben.

Weitere Infos und Anmeldung unter
hildebrand.freiraum@t-online.de
Tel.: 0211 / 239 71 00



Sonntag, 25. Juni 2017
Tanz auf dem Seil der Wahrheit
Christa Anderski

Menschen sitzen erwartungsvoll am Rande eines Raumes. Sie schauen unruhig auf die Bühne, auf der sich das Spektakel ereignen wird. Drei schwarze Tische heben sich bedrohlich vom hellen Parkettboden und den weißen Wänden ab. Hinter jedem der Tische sitzt ein Mensch in schwarzem Gewand. Ein Hauch von Ernst und Gewichtigkeit ist zu spüren. Die schwarze Gestalt, die als Vorsitzende der Jury über den anderen thront, beginnt mit ihren Worten das Seil der Wahrheit quer durch den Raum zu spannen.
„Sie sind als Zeuge geladen. Als Zeuge sind Sie der Wahrheit verpflichtet. Sie müssen die Wahrheit sagen. Lassen Sie nichts weg und sagen Sie nichts Ausgedachtes. Wenn Sie lügen, machen Sie sich strafbar.“
Das Seil wird nachgespannt. „Sollten Ihre Aussagen vereidigt werden und Sie haben eine falsche Aussage getätigt, dann drohen Ihnen Geld- oder Haftstrafen.“
Dann ist es soweit. Der erste Seiltänzer betritt die Bühne. Es ist ein großer Mann, dessen leichte Nervosität sich nur an fahrigen Bewegungen seiner Füße erkennen lässt. Er steigt auf das Seil. Schnell hat er sich ausgependelt und geht sicher, von Fragen geleitet, darüber. Ohne Stocken und ohne Wankelmut erreicht er, unbeeindruckt von leichten Wortböen, sein Ziel.
Erleichterung spiegelt sich in seinem Gesicht, als er wieder festen Boden betritt.

Nach kurzer Beratung wird der zweite Seiltänzer auf die Bühne gebeten. Es ist ein junger Mensch. Es ist sein erster Auftritt. Er gibt sich sicher und gelassen. Doch schon von Anfang an bläst ihm ein schärferer Wind entgegen, als er das Seil betritt. Trotzdem ist sein Schritt noch fest. Da zieht ein Gewitter sich über ihm zusammen. Er spürt die Gefahr, denn das Seil der Wahrheit beginnt heftig zu schwanken. Angst steigt in ihm auf. Der junge Seiltänzer biegt seinen Oberkörper vor und zurück, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Schritt wird immer zögerlicher. Hilfesuchend wirft er einen Blick auf seinen Betreuer und spürt auch bei diesem Unsicherheit. Dennoch wird ihm von dort schnell eine Balancestange gereicht. Befreit greift der Junge sie auf. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“ Mit diesen Worten eilt er vorwärts und rettet er sich zum Seilende, ohne in den Abgrund der Lüge zu stürzen. Mit angespanntem und bleichem Gesicht setzt er sich neben den ersten Seiltänzer.

Die Vorsitzende der Jury ruft den dritten Bewerber auf. Eine junge Frau tritt hervor. Ihr rotschwarzes Kostüm flackert auf in der aufgeladenen Atmosphäre. Sie spürt Bedrohlichkeit, doch ihr Lächeln strebt, diese zu verscheuchen. Mit Anmut klettert sie auf das Seil der Wahrheit. Ihre ersten Schritte sind graziös. Doch dann zuckt ein greller Blitz, unmittelbar gefolgt von einem Donnerschlag, durch den Raum. Sturmböen setzen ein und setzen das Seil in Schwingungen. Erschreckt schreit die Seiltänzerin auf. Die ihr zugeworfene Balancestange gleitet durch ihre Finger und zersplittert auf dem Boden. Mit letzter Kraft versucht die junge Frau das Gleichgewicht zu halten. Da rutscht ihr rechter Fuß ab und sie stürzt in den Abgrund der Lüge.
„ Die Akte geht zur Staatsanwaltschaft wegen Betrugs im Prozessverfahren.“



Sonntag, 4. Juni 2017
Die Berufung


Die Ausbildung lag hinter mir.
Anstrengende Jahre waren es gewesen.
Aus Leidenschaft für das Theater, schon als Kind hatte mich die Atmosphäre von geheimnisvollem Dunkel und Magie ,die vor einer Vorstellung im Zuschauerraum herrscht, verzaubert, wollte ich unbedingt Schauspielerin werden.
Atemlos hatte ich dem Spiel zugesehen,mitgefiebert, die Figuren des Stückes bewundert, mit ihnen gelitten, sie gefürchtet oder mich mit ihnen identifiziert.
Innerlich zitternd, ob ich den Anforderungen einer Schauspielschule genügte, hatte ich mich beworben und von Lampenfieber schwitzend, äußerlich jedoch Überlegenheit vortäuschend die verschiedensten Rollen vorgesprochen.
Nach der dritten Bewerbung wurde ich endlich angenommen.
Ich durchlief eine strenge Schule. Oft dachte ich, das schaffst du nie. So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Während meiner stärksten Krisen, glaubte ich mir fehle jegliches Talent ausdrucksfähig zu spielen.
Wir wurden geschliffen, zurechtgehobelt, getadelt und sehr selten gelobt.
Ich fühlte mich ausgelaugt, voller Selbstzweifel und wollte doch nicht aufgeben.
Langsam, ganz langsam wurde ich besser. Es gelang mir immer öfter Gefühle darzustellen, authentisch zu wirken, mich in meine Rollen hinein zu versetzen und bekam dadurch mehr Lob.
Schließlich hatte ich die Prüfung geschafft.
Jetzt hatte ich sogar dieses Engagement hier im Schauspielhaus bekommen. Zunächst wurde ich nur in kleinen Nebenrollen eingesetzt, aber ich war meinem Ziel näher.
Begierig saugte ich die Athmosphäre des Hauses auf.
Hinter der Bühne, in diesem Labyrinth von Werkstätten, Lagern, Räumen und Winkeln kann man sich verirren. Die aufgeräumten Hallen der Schreiner, Maler, Künstler, Schneider und Schuhmacher, in denen nach Holz, Leim, frischer Farbe, Stoffen und Leder riecht, sind das Gegenteil der Räume, in denen die Requisiten oder Möbel in den Stilen vieler Epochen lagern. Hier schwebt der Staub von Jahren und regt zur Fantasie an. In welcher Vorstellung hat wohl dieser Kronleuchter, jenes Sofa, oder dieser merkwürdige Gegenstand eine Rolle gespielt. Kaum zu glauben, dass jedes dieser Dinge ordentlich registriert und beschriftet ist und es jemanden gibt, der darüber Bescheid weiß und das ohne die Hilfe von Computerlisten.
Besonders beeindruckt war ich von der Probebühne und der Maske. Jede noch so kleine Rolle, selbst die Statisten werden hier passend geschminkt und angekleidet. Die Perücken sind aus Echthaar geknüpft, sogar die Schuhe handgenäht. Mir halfen die Kostüme sehr in meine jeweilige Rolle zu schlüpfen. Noch heute ist es, als zöge ich mir mit der Verkleidung gleichsam den Charakter der zu spielenden Figur an.
Auf der Bühne fühlte ich mich damals ganz klein und unscheinbar." Das sieht man auch", meinte der Regisseur "Du musst präsent sein, auftreten ! Auch in der hintersten Reihe musst Du wahrgenommen werden"
Das Licht der Scheinwerfer blendete mich, zugleich fokussierte es sich auf mich und half mir aus meiner Deckung herauszukommen, in der ich mich innerlich noch befand.
Präsenz zeigen!, dachte ich und meine Scheu verschwand je mehr ich in meine Rolle eintauchte.
Nach einer Probe, die fast immer mehrere Stunden dauerte, während der ich die meiste Zeit herumsaß und auf meine winzig kleinen Auftritte wartete, war ich total erschöpft.
Viele meiner Kollegen, die schon länger hier arbeiteten, waren da abgeklärter, routinierter. Sie alberten herum, rauchten und aßen mitgebrachte Butterbrote.
Heute nach vielen Jahren habe ich zwar immer noch Lampenfieber und bin nach der Vorstellung sehr müde, aber sobald ich auf der Bühne stehe, gehe ich ganz in meiner Rolle auf. Es beflügelt mich, wenn ich merke, ich komme beim Publikum an. Besonders dann, wenn ich eine unsympathische, böse Person zu verkörpern habe. Die reizen mich sowieso am meisten.
Wenn Zuschauer die Vorstellung vorzeitig verlassen, denke ich, wenn die wüssten, wieviel Energie es kostet ein Stück zur Aufführung zu bringen, angefangen beim Entwurf des Bühnenbildes, Auswahl der Stoffe, der Kostüme, der Beleuchtung, der Effekte und das ganze Zusammenspiel aller Beteiligten vom Handwerker hinter der Bühne bis zu den Schauspielern, hätten sie bestimmt mehr Respekt.
Es gefällt sicher nicht jedem alles, aber die große Leistung , die hinter so einer Vostellung steckt, die könnten sie nach einem Blick hinter die Kulissen besser würdigen.

Ingrid Denzel



Montag, 8. Mai 2017
Unterschlupf
Unterschlupf

Es ist eine milde Nacht. Die alte Standuhr schlägt zwölf Uhr. Felix und einige seiner Freunde sitzen gemütlich im Kerzenschein beisammen und lauschen alten Geschichten. Felix Stimme erhebt sich aus dem Dunkel. „Heute möchte ich euch von meinen Urgroßeltern erzählen. Ihr wisst, dass unsere Familie schon lange mit dem Schauspielhaus verbunden ist. Es heißt bei uns, dass meine Urgroßeltern die ersten waren, die den Zugang zum Theater fanden und sich immer wieder aufs Neue dafür begeisterten. Heute Nacht will ich euch berichten, wie es dazu gekommen ist.“ Felix blickt sich um und sieht im Mondenschein die Augen seiner Freunde aufmerksam auf sich ruhen. So fährt er fort:
„ Es war spät in der Nacht. Ein Unwetter tobte durch die Straßen der Stadt. Grelle Blitze und ohrenbetäubender Donner wechselten einander ab, Regen peitschte auf das Pflaster. Das Gewitter hatte meine Urgroßeltern und ihre 4 Kinder überrascht und sie bis auf die Haut durchnässt. Thea, meine Urgroßmutter, zitterte vor Kälte und Angst. Leo, der mein Urgroßvater war, drängte zur Eile. In ihrer großen Not sahen sie plötzlich eine Tür vor sich, die im Sturm hin und her schlug. Wie der Blitz schlüpften meine Urgroßeltern und die Kinder durch diese Tür in ein Gebäude. Gerettet! Sie schüttelten, so gut es ging, die Nässe ab. Nach einer kurzen Atempause begannen sie ihre Umgebung zu erforschen. Sie entdeckten eine Menge Räume im Gebäude, in denen sich eine Unzahl von verschiedenartigen Dingen befand, doch nirgendwo fanden sie jemanden, den sie fragen konnten, wo sie die Nacht über bleiben konnten. So machten sie sich selbst auf die Suche. Blitze erhellten kurzzeitig die Dunkelheit, so dass sie sich ein wenig orientieren konnten. Nach einigen Minuten kamen meine Urgroßeltern in ein Zimmer, in dem es staubig und muffig roch. Ein Blitz ließ sie erkennen, dass sie in einem Raum standen, in dem es vor alten Möbeln nur so wimmelte. Während Leo sich noch darüber wunderte, stieß Thea plötzlich einen Jubelschrei aus: „ Leo, schau nur, was ich gefunden habe!“ Sie stand vor einem Sofa. Ihre Augen strahlten. „Es ist groß und weich. Hier können wir es uns gemütlich machen. Von einem solchen Sofa habe ich schon immer geträumt!“ Leo wusste, dass wenn seine Frau so begeistert von einer Sache war, dann ließ sie sich nicht mehr von ihrer Meinung abbringen. Es war besser, keinen Widerspruch einzulegen. Also schaute er sich das Sofa gottergeben an.
Vor ihm erhob sich ein großes Sofa, das mit grünem Plüschsamt bezogen war und auf dem viele weiche Kissen lagen. Man sah ihm an, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Mein Urgroßvater schaute unter das Sofa und entdeckte einige Sprungfedern und Löcher in der Polsterung. „Na ja“, murmelte er vor sich hin, „hier könnten wir schlafen.“ Er begann die Löcher zu vertiefen, als er erneut durch einen spitzen Schrei seiner Frau aufgeschreckt wurde. Er blickte auf und sah im Schein eines Blitzes, dass Thea und seine Kinder eine große blonde Perücke hinter sich herzogen. „Da drüben im anderen Zimmer liegen ganz viele von ihnen. Das habe ich noch nie gesehen. Einfach toll! Die können wir gut gebrauchen!“ und schon stopfte sie die weiche Haarpracht in eins der Sofalöcher.
Es verging einige Zeit, bis meine Urgroßeltern das Sofa so hergerichtet hatten, dass sie gemütlich und weich darin schlafen konnten, und als die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens durch die Fenster des Zimmer schlüpften, entdeckten sie eine friedlich schlafende Familie.“
Im Licht der Kerzen erhebt sich Felix und ruft seinen Freunden euphorisch zu:
„Und das war der Anfang unserer Liebe für das Schauspielhaus. Mit den Jahren lernte unsere Familie jeden Schauspieler, jeden Beleuchter und Tontechniker kennen. Auch jeder neuen Inszenierung wohnten wir bei. Die Begeisterung für das Theater setzte sich von Generation zu Generation fort und trotz einiger Bemühungen der Werkstatt- und Requisitenleute haben wir uns nie vertreiben lassen.“
Felix reckt stolz seinen Kopf und seine Barthaare zittern vor Begeisterung, als er verkündet: „ Nie werden wir uns von den Brettern, die die Welt bedeuten, verjagen lassen!“
Mit Nachdruck beisst Felix in ein Stückchen Käse, das vormittags vom Brot des Intendanten zu Boden gefallen war, und seine kleinen Mäuseohren stellen sich selbstbewusst auf.

Christa Anderski



Dienstag, 18. April 2017
Schreiben im Düsseldorfer Schauspielhaus
Hinter den Kulissen des Düsseldorfer Schauspielhauses gibt es ungeahnte Perspektiven, Sichtweisen und Eindrücke. Sofa- und Sessellager, Krankenhausbetten und einen Königsthron, Perücken und Ondulierstäbe, haushohe Kulissen zum anfassen, Schreinerei, Schneiderei, 12.000 paar Schuhe, Unmengen von Lampen und Kabeln, von den 12.000 paar Schuhen ganz zu schweigen. Dazu überall Menschen, die quasi im Verborgenen daran arbeiten, dass auch an diesem Abend wieder ein Stück auf die Bühne kommt.
Unsere Schreibgruppe hat die Führung hinter den Kulissen von Theaterpädagoge Thiemo Hackel zum Schreiben animiert. Einen herzlichen Dank an die sehr nette und informative Führung. Demnächst hier in diesem Blick unter der Rubrik "Ungewöhnliche Orte" auch dazu wieder Texte.


Große Bühne, 5.7.18



Dienstag, 17. Januar 2017
Gedanken zu Harald Naegeli
Geschrieben im Düsseldorfer Stadtmuseum

Schon die Nennung des Namens "Harald Naegeli" verursacht in mir eine Zeitreise an das Ende der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
1977 ist das Jahr, in dem meine dritte Tochter geboren wurde. Ich war 28 Jahre alt, studierte im 6. Semester Zahnmedizin und war vollauf damit beschäftigt, Studium und Familie unter einen Hut zu bringen. Die Jahre, in denen ich politisch wirklich aktiv war, lagen zwar hinter mir, aber immer noch hörten wir zuhause Degenhardt und Süverkrüp. Wir waren gegen alte Nazis, verkrustete Strukturen, gegen überkommene Moralvorstellungen, gingen zu Demos und wollten unseren Beitrag leisten, die Welt zu verbessern. Wir wohnten in Abbruchhäusern zusammen mit Aussteigern, Hare Krishnan Mitgliedern, Linken, Lesben, Schwulen, kurz mit allen, vor denen unsere Eltern uns gewarnt hatten. Wir lasen Grass, verehrten Beuys, der sich mit seinen Studenten an Bäume des Grafenberger Waldes gekettet hatte, um die Erweiterung des Rochusclubs weiter in den Wald hinein zu verhindern. Unsere Kinder waren in einem sogenannten Kinderladen, in dem es das Konzept einer repressionsarmen Erziehung gab, wir lasen die Pardon und Konkret. Natürlich waren uns Künstler wie Staek und Naegeli ein Begriff.
Über die Graffiti Bilder Naegelis waren wir durchaus geteilter Meinung. Während mein Mann es übergriffig empfand, öffentliches oder privates Eigentum zu beschmieren, war ich eher begeistert von dieser Art von Kunst. Wir stritten über unsere unterschiedlichen Ansichten zu Eigentum, wobei ich noch von der eher linkspolitischen Szene geprägt war, in der ich mich in meinem ersten Studentenleben bewegt hatte."Stell Dir vor, es sei Dein Haus", meinte er. "Mich würde es gar nicht stören, solange es gut ist", konterte ich. Schließlich gab es eine große Szene von Häusermalern. Auch die zum Abriss vorgesehenen Häuser, in denen wir wohnten waren großflächig mit Gemälden und Graffitis versehen. Eine schöne Auflockerung der sonst so tristen Grafenberger Allee.
Durch das Studium der Zahnmedizin kam ich mehr und mehr mit konservativen Gedanken in Berührung. Bei den Professoren galten die Tugenden von Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit, was in diesem Fach nicht falsch ist. "Unsere Studenten haben keine Zeit auf Demonstrationen zu gehen", hieß es damals. Meine Kommilitonen unterschieden sich beträchtlich von denen aus meiner "germanistischen" Studienzeit. Ich vermied politische Themen, galt ich sowieso als bunter Vogel, weil ich Mutter dreier Kinder war. "Du solltest Dich lieber um Deine Kinder und den Haushalt kümmern, statt jemandem den Studienplatz wegzunehmen", bekam ich unter anderem zu hören. Daher war und ist es bis heute noch befreiend und erfrischend für mich, ab und zu eine gewisse Anarchie zu entdecken. Etwas, das die allzu selbstzufriedenen aus ihrer Lethargie und Alltäglichkeit aufschreckt.

Ingrid Denzel



Sonntag, 11. Dezember 2016
Zwiespalt
Christa Anderski

Bereifte Rosenknospen, hochgeschlagene Mantelkragen, tief hängende graue Wolken, Menschen, die fröstelnd über das Kopfsteinpflaster eilen.
Ein Lichtstrahl sucht seinen Weg durch den trüben Novembertag und gleitet durch die Fenster eines Museums. Er trifft auf eine Fotographie. In seinem Schein taucht eine Figur auf mannshoher grauer Betonmauer auf: schwarz, schmal, voller Bewegung, in einem Schwung und in einem einzigen Strich gezeichnet.
Es ist ein Mann, der dem Dunkel einer Tiefgarage entflohen ist. Er springt über eine Mauer und jagt einem lichtbeschwingten Schmetterling nach. Seine Sehnsucht nach Licht und Leben verleiht ihm Kraft und Bewegung.
Ich stehe vor dem Bild und bin fasziniert von der Ausdrucksstärke dieser gemalten „Momentaufnahme“. Sehnsucht nach Licht und Freiheit - abstrahiert in einer einzigen Figur!
Da zieht der Lichtstrahl auf einmal weiter durch den Raum. Er trifft auf die Fotographie einer Hauswand, die in seinem Licht weiß erstrahlt. Auch auf dieser Wand finde ich ein Graffiti.
Plötzlich verspüre ich Ärger. Wie kann man fremdes Eigentum ohne Erlaubnis einfach so bemalen? Ich stelle mir vor, es sei die frisch gestrichene Wand meines Hauses. Empörung schnellt in mir hoch. Die Zeichnung zerfällt mit einem Mal zum Gekritzel, zum Geschmiere, zu einem unverschämten Übergriff.
Wütend eile ich zum Raumausgang. Auf der Rückseite einer Wand stoße ich auf Kohlezeichnungen, Ölgemälde und Collagen. Ich atme auf. Endlich „richtige“ Kunst. Ich bleibe stehen. Das Bildnis einer Mutter vortrefflich in Malweise und Ausdruck. Mein Blick fällt auf den Namen des Künstlers: Harald Naegeli. Wie, dieser Graffitikerl kann „richtig“ malen?
Ich komme ins Grübeln. Wie kommt ein „richtiger“ Künstler dazu, Graffitis an Wände zu sprühen? Ich kann es mir nicht erklären. Im nächsten Augenblick fällt mir Picasso ein. Auch er abstrahierte später oft seine Bilder auf das Wesentliche. Wie viele Zeichnungen hat er gebraucht, um einen konkreten Stier auf das Wesentliche zu reduzieren, auf seine Kraft und seine geballte Energie? Ich weiß es nicht, aber es war ein langer, mühsamer Prozess,
Ähnliches spüre ich bei Naegeli. Plötzlich entsteht in mir wieder die Faszination, die ich bei seinem Graffiti zuerst gefühlt hatte. Ich kann wieder die Großartigkeit erkennen. Formen und Linien auf ein Minimum reduziert und diese Leichtigkeit der Bewegung! Sie drücken ganz klar die Botschaft des Bildes aus. Phänomenal!!
Ich fasse den Entschluss, mich mit dem Künstler Naegeli intensiver zu beschäftigen.

Ort: Stadtmuseum- Ausstellung H. Naegeli „Der Prozess“