Ober- und Unterwelt
Von Christa Anderski

Da liegt er vor mir, der Bahnhof, lang gestreckt mit einem Uhrenturm. Durch seine Türen fluten Menschen. Ich lasse mich hineintreiben, gleite über die Rolltreppe hinauf auf den Bahnsteig.
Ein schriller Pfiff, gefolgt vom monotonen Piepen der sich schließenden Zugtüren, sie knallen zu und quetschen ein „fuck you“ eines verspäteten Reisenden ein.
Der Zug rollt an und lässt einen Vater mit Sohn am Bahnsteig zurück. Sie winken. Sie winken noch, als der Zug schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Der Schatten eines einfahrenden Zuges verdunkelt den Bahnsteig. Ein Lautsprecher verkündet laut seine Ankunft. Menschen eilen zur Bahnsteigkante und schauen dem Zug verlangend entgegen. Bremsen quietschen. Dann wieder das monotone Piepen der sich öffnenden Türen. Menschen strömen heraus, eine menschliche Flutwelle ergießt sich über den Bahnsteig. Koffer rollen über den harten Boden. Worte gleiten aneinander vorbei. „Gute Reise!“ kreuzt ein „Schön, dass du da bist!“ Grelles Grölen überschwemmt den Bahnsteig und verschlingt jedes gesprochene Wort, sei es türkisch, japanisch, polnisch oder deutsch. Aktentaschen, Rucksäcke, Metall- und Lederkoffer verraten die Absicht der Reisenden.
Menschen stehen und warten. Sie warten auf den richtigen Anschluss. Einige lesen, andere starren auf ihr smartphone, wieder andere starren ängstlich auf die Anzeigetafel, als ob ihr Leben davon abhinge. Menschen mit Knopf im Ohr unterhalten sich mit unsichtbaren Partnern, andere beugen sich zu ihrem Nachbarn, Augen und Mund sprechen miteinander.
Füße tippen ungeduldig gegen den Boden. Taube schreckt auf. Ein Zug fährt ein, ein Zug macht sich bereit. Sie begegnen sich kurz. Bremsen lösen sich, während auf der anderen Seite Bremsen zum Anhalten quietschen. Türen öffnen sich. Türen schließen sich. Menschen steigen ein. Menschen steigen aus. Alles im gleichen Atemzug. Züge gleiten aneinander vorüber. Lebenspuls des Bahnhofs.
Bahnsteig- ein unablässiges Kommen und Gehen, Lachen und Weinen, Trauer und Freude, Abschied und Ankunft in stetigem Fluss. Wind peitscht Abschiedsschmerz vom Bahnsteig, Regen spült die letzten Spuren fort. Ich wische mir eine Regenträne aus dem Auge, kehre dem pulsierenden Bahnsteig den Rücken und steige in die Unterwelt.

Rolltreppen führen mich nach unten. Ich erreiche den U-Bahnhof und setze mich auf seinen Bahnsteig. Ein wie viel leiserer Platz: Bahn gleitet leise herein, Anzeigetafeln verkünden schweigend die Ankunft, schwarzer Noppenboden dämpft hastige Schritte. Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. Leise setzt die Bahn ihre Fahrt fort.
Stille. Neue Einkaufstüten stellen sich neben Füße, die geduldig warten. Kinderwagen und Hunde an ihrer Seite. Alle warten auf die Bahn, die sie nach Hause bringen soll. Stille, Warten. Vom hastigen Puls, vom Sturm der Oberwelt ist hier nichts zu spüren. Keine Regenträne, kein Windpeitschen.
Endlich eine Bahn. Sie bremst, ein kurzes Fauchen, dann entlässt sie die Menschen. Zielgerichtete Schritte bringen die Menschen zur Rolltreppe. Der Zug fährt fast unhörbar los. Der Bahnsteig atmet auf. Er schweigt und lauscht dem Reden der wartenden Menschen. Er bewacht den Schlaf der Menschen, die in seinen silbernen Sesseln die Augen geschlossen haben. Er lächelt leise den Kinder zu, die um seine Säulen Nachlaufen spielen.
Ein Platz der Ruhe, ein Platz der Heimkehr. Auch ich mache mich auf, aus der Unterwelt des Bahnhofs aufzutauchen und nach Hause zurückzukehren.