Mutter Holunder
Von Ingrid Denzel

Wenn ich eine Buchhandlung sehe, schaffe ich es selten, daran vorbeizugehen, ohne wenigstens einen Blick ins Schaufenster zu werfen oder die auf Tischen ausgestellten Bücher zu betrachten.
Egal in welchem Land oder welcher Stadt ich mich befinde, ob in Kopenhagen, Paris, London oder Madrid muss ich einfach stehen bleiben oder hineingehen. Am liebsten hineingehen, denn jeder Laden hat seine spezifische Ausstrahlung.
Ich mag die Antiquariate mit den strengen deckenhohen Regalen voller ledergebundener alten Bücher, den Geruch von Staub und altem Papier, der mich auf magische Art in die Vergangenheit versetzen kann. Oft haben die Inhaber dieser Läden selbst etwas Antiquarisches, in ihren Pullundern, die sie über gelblichen Hemden tragen, das schüttere Haar sorgsam gekämmt und das Gesicht verblasst, weil sie den Tag hier drinnen verbringen. Vorsichtig und behutsam gehen sie mit den alten Büchern um, fast zärtlich wenden sie das fragile vergilbte Papier. Die Umgebung verschwindet aus meinem Bewusstsein, wenn ich mich in so ein Buch vertiefe und die Zeit verrinnt ohne mich.
Daran muss ich gerade denken, gerade jetzt, wo ich in einer hellen, modernen, großen Buchhandlung, ausgestattet mit allem Komfort der Neuzeit sitze. Ich bin umgeben von unzähligen Büchern aus allen Lebensbereichen. Rolltreppen bringen mich in die einzelnen Stockwerke, deren jedes unterschiedlichen Gebieten gewidmet ist. Überall gibt es etwas zu entdecken, nicht nur Bücher auch Geschenkartikel, witzige Becher mit ebensolchen Sprüchen, Bleistifte, Hefte, Plüschtiere, Geschenkpapier. Eine unglaubliche Fülle von Dingen, die alle schreien: Schau her,kannst du mich nicht gebrauchen? Fehle ich dir nicht? Sieh doch, wie süß ich bin! Kauf mich!-HILFE!!!- Etwas erschöpft von diesem Überangebot begebe ich mich nach oben ins Café. Ich kaufe mir einen Cappuccino, setze mich in einen der gemütlichen Sessel, und habe das Bedürfnis gar nichts zu tun und nichts mehr anzuschauen. Menschen sitzen hier in meiner Nähe, Einer beschäftigt mit dem Smartphone, eine Frau liest Zeitung. Jemand blättert in einem schön bebilderten Kochbuch. Ein Vater mit Kind macht Pause bei Smoothie und Pannini. Sie warten auf Mama, die eine Bluse kaufen wollte. Es wird gut angenommen, dieses Café. Auch in der gesamten Buchhandlung herrscht reger Betrieb.
Wie anders ist hier die Atmosphäre, als die vorher geschilderte , in dem es immer so wirkt, als sei der Buchhändler eigentlich der Hüter seiner Schätze und bedauere fast, eines der Bücher zu verkaufen.
Während ich sitze und sinniere, kommt eine ältere Dame auf mich zu."Darf ich mich zu Ihnen setzen?" fragt sie und deutet auf den Sessel neben mir. "Selbstverständlich", antworte ich und denke, 'Wenn Du die Klappe hältst'. "Ich störe sie auch nicht mit Gequatsche", sagt sie, als habe sie meine Gedanken erraten. Ich nicke.
Sie hat ein Buch aus einem der Regale geholt und schlägt es auf. Augenblicklich umweht mich ein leichter Duft von Holunder Blüten. Ob sie so ein Parfüm trägt? Sie lächelt kaum merklich. Der Duft wird stärker. Ich schließe die Augen. Ja, kein Zweifel, so duftet Holunder im Frühjahr. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen grünen üppigen Busch mit weißen Bütendolden übersät. Ich höre Vögel zwitschern. Kann Fantasie so stark sein? Seidenblauer Himmel überspannt eine saftig grüne Wiese, Enten führen winzige gelbe Küken spaziere. Ein Teich spiegelt den Himmel. Es ist Frühling."Ja", höre ich eine Stimme "Fantasie kann so stark sein. Das weißt Du doch! Hast Du nicht oft beim Lesen die Zeit vergessen, den Ort gewechselt? Erinnere Dich an die Geschichte von Nils Holgerson, an die Märchen von Christian Andersen, von Hauff, an die Bücher von Karl May. Du bist über Landschaften geflogen, warst im Orient, hast geweint über das Schicksal der kleinen Meerjungfrau, hast im Mondschein getanzt. Du warst in Prärien und in der Wüste. Kraft Fantasie kannst Du überall hin, du bist nie allein, solange Du eintauchen kannst in Geschichten"
"Stimmt", denke ich und mir kommt Mutter Holunder in den Sinn. Ich öffne die Augen, um die Dame zu fragen, ob sie Mutter Holunder kennt.- Der Sessel neben mir ist leer.