Was sollen wir tun
"Ohne sorge sei ohne sorge sei ohne sorge..." schrieb Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht „Reklame“ 1956 und meinte den verheerenden Einfluss von Werbung auf das Denken und Fühlen des Menschen, der auf knallbunte Plakatwände starrt, indessen er sich in seinem Leben unsicher und gefährdet fühlt und keine Antworten findet.
Heute muss ich so oft an diese Verse denken, die mich 1968 als junge Erwachsene trafen und mich einführten ins weite Feld der Lyrik und ebenso in das Feld drängender gesellschaftlicher Fragen.
Entscheidende Antworten fehlen uns auch jetzt wieder, schon wieder. Die buntgelben Werbeplakate schweigen. Niemand, der sie in den leeren Innenstädten noch anschaut. Sie wanderten ins private Kämmerlein, drinnen ein PC steht, der ein Tausendfaches an Verknüpfungen und Verbreitungen hervorbringt, als die paar Printmedien der 50er Jahre sich nur hätten erträumen können. Aber hilft uns das jetzt?
Ja, es hilft, den täglichen Blog von Christian Drosten zu hören, der uns das Wesen des Virus erklärt. Ja, es hilft, die neuen Studien von Hendrick Streeck zu verfolgen, der endlich die genauen Infektionswege herausfinden wird. Es hilft, jeden Abend von Montag bis Donnerstag wegzutauchen, weil im Radio eine sehr wohltönende Stimme den Weltliteratur-Klassiker „Jane Eyre“ vorliest, ja, sie liest es dir vor, die du auf dem Sofa liegst und dich mit einer Decke eingehüllt hast gegen die unverhältnismäßig große Kühle der Jahreszeit, gegen die Kälte der Zeit überhaupt und gegen den Todeshauch des überaus ansteckenden Virus.

- Ein Mann in Anzug und roter Weste tritt formvollendet an deine Seite, lauscht auf deine Worte, fragt dieses oder jenes. Du denkst, was für ein höflicher Mensch und gibst gerne Auskunft.
Doch dann dämmert es dir und du bemerkst auf einmal den Schauer, der dir schon die ganze Zeit leise über den Rücken lief. Denn dieser Mann kehrt immer wieder und stellt sich still an deine Seite und nach einer Weile, wenn du ihn wieder herannahen siehst, spürst du diese feine Resignation in deiner Seele. Du begreifst, er bringt dich dazu aufzugeben und einzusehen, dass du keine Wahl hast, dass er gewinnen wird, dass du dran bist, dass du verloren bist. Er sagt gar nicht viel, fragt höchstens nach deinen Gewohnheiten und beobachtet deine Wege und wenn er genug über dich weiß, dann kommt er zum letzten Mal und nimmt dich mit. Ich beobachte das bei einer Frau, die er zum Schluss mit in das letzte Zimmer nimmt, es ist klar, das ist ihre letzte Station, das ist ihr Ende. Ich sehe ihr schmerzvolles Gesicht, ich spüre ihre Ergebenheit, es ist jetzt ihr Schicksal. Ich kann dort nicht eingreifen, das steht mir nicht zu. Meinen Weg hat der Mann auch schon ein paarmal gekreuzt, aber er hat mich nicht angeschaut, er meinte mich noch nicht und ich habe ihn auch nicht hereingelassen. Ich vertraue auf meine Kräfte und ich spüre meine starke Anbindung an das Helle, die Weite, die Tiefe, das Göttliche, ich fühle mich aufgehoben, ich fühle mich getragen im Vertrauen. Das ist das, was ich „tun“ kann. Aber es ist sehr viel. -

Ich denke an Jane Eyre, die starke, selbstbewusste und ehrgeizige sowie überaus intelligente junge Person, deren Aufwachsen ich allabendlich im Radio miterlebe. Käme sie heute besser zurecht und wenn ja, welche ihrer Eigenschaften würden ihr helfen? Der unbedingte Drang gehorsam zu sein? (Wir halten die Regeln ein, Frau Merkel!) Die Höflichkeit. (Bitte nach Ihnen!) Die Unterordnung. (Die Regierung macht das alles ganz gut.) Die Intelligenz. (Viren – die kleinsten Herrscher der Welt!) Das künstlerische Talent. (Bei so viel Zeit zu Hause: Malen, singen, Klavier spielen oder lernen Sie doch eine neue Sprache!) Die Schulbildung. (Wir müssen jetzt alle vernünftig sein!) Das Aufmüpfige. (Ist die Demokratie gefährdet?) Das Trotzige. (Und ich besuche jetzt doch meine beste Freundin!) Die unübersehbare Fähigkeit zur Resilienz. (Ich vertraue.) Hilft davon etwas?

Mein Mann hat heute eine Packung Mehl ergattert. Feinstes „Oberkulmer Rotkorn Dinkelmehl ohne Weizeneinkreuzung“, das Paket für 4,59 €. Die Erzählungen von meinem Vater aus der Nachkriegszeit weisen eine große Ähnlichkeit auf, wie sie in Schlangen anstanden und wie sie jubelten, wenn sie eines der begehrten Weißmehl-Pakete mit nach Hause nehmen durften. In der Zeitung erinnert jemand an die Spanische Grippe, ein Foto zeigt die eng aneinander grenzenden Eisenbetten in der Veranda eines Krankenhauses. Oft schon zogen mir Bilder der mittelalterlichen Pest durchs Gehirn, wann finden wir rote Kreuze auf den Haustüren? Angst und Bange wird mir, wenn von einer neuen App gesprochen wird, die über die Kennzeichnung Corona-Kranker es den Gesunden ermöglicht, ihnen auf der Straße auszuweichen…Halt, nein, so soll es doch gar nicht kommen, nein, nur nachträglich kann ich mit der App feststellen, dass ich Infizierten begegnet war. Dann weiß ich, ich hatte wohl Pech. Was ist mit uns los?

Und was macht unser Gehirn mit dem Virus? Selbst die Erklärung von Christian Drosten gerät in meinem Kopf zum Kriminalroman, ich sehe das verdammte Virus vor mir, wie es sich schützt und ummantelt, auf dass es nicht zu früh erkannt wird, Sherlock Holmes fällt mir ein mit seinem mittelbraunem Trenchcoat, auch das Virus trägt wohl solch einen Trenchcoat und schnürt den Gürtel ganz, ganz eng und in dem winzigen Moment, wo meine Immunzellen es erkennen können, schwups, da ist es schon hineingeschlüpft in die Zelle und lädt seine DNA ab. Oder meine Immunzellen haben es erwischt. Ich hoffe natürlich ständig auf letzteres. Wir alle hoffen.

Und dann gibt es die Schriften der Weisen, der Menschen, die Fachleute für den Wandel sind. Es ist Transformationszeit, sagen sie. Sie sehen die Möglichkeit einer neuen Ära heraufziehen, einer gerechteren Gesellschaft und einer achtsameren, weniger kapitalistischen Wirtschaft, einer besser geförderten Ökologie, eines besser vorbereiteten Gesundheits-Systemes, so dass die großen Krisen unseres Jahrhunderts besser bewältigt werden und das Wohlergehen und der Friede besser unterstützt werden können. Vielleicht kommt es ja genau so?

Jane Eyre, was sagst du dazu?
Werde ich’s kriegen, Jane, sag es mir? Sind meine Tage gezählt, jaja, das sind sie ja immer, aber ist die Zahl nur noch klein, winzig klein, sag es mir, Jane. Oder hilft auch mir dein Mut, dein Hut und deine schöne schwarze Weste, an die du die einfache, aber schmucke Brosche gesteckt hast, damit du dich vor dem Schlossherrn überhaupt sehen lassen kannst? Wie du war auch ich eine Art Gouvernante, zuerst im öffentlichen Leben mit vielen Schulkindern, dann im eigenen Hause, zuletzt mit jungen Erwachsenen, die ich Vieles lehrte und mit ihnen zusammen lernen konnte. Was kann ich von dir lernen, Jane, sag es mir, ach sag es mir doch.

Zeit verstreicht, Zeit ist verstrichen, Jane „lebte“ im 19.Jahrhundert, Alexander Fleming, der Erfinder des Penicillins, um 1930 und nun brauchen wir wieder ein Medikament, es wäre gut, eines gegen das Virus und andere Viren zu haben, los strengt euch an, ihr Forscher, die Menschheit wartet auf euch.

Bis dahin aber leben wir. Die ZEIT betitelte das als „Menschheitsaufgabe“. Wir leben vor uns hin. Wir beachten die Regeln. Wir behalten die gute Laune, ja, das tun wir doch oder? Wir kaufen ein. Wir gehen spazieren. Und wir tun so, als ob uns das alles, die Gefahr, die Einschränkungen, nichts ausmacht. Wir kommen zurecht. Oder wir kommen nicht richtig zurecht. Oder wir werden verrückt?

Schon 1968 wusste man, wie die Welt für einen Demenzkranken aussehen könnte, aber nun sind wir alle demenzkrank oder warum sehe ich seit zwei Wochen einfach kein Mehl, keine Nudeln, kein Knäckebrot und kein Klopapier mehr in den Regalen meines Supermarktes? Und warum, bitte, holt mich hier niemand ab?

Selbstbildnis im Supermarkt

In einer
großen Fensterscheibe des Super-

Marktes komme ich mir selbst
entgegen, wie ich bin.

Der Schlag, der trifft, ist
nicht der erwartete Schlag
aber der Schlag trifft mich

trotzdem. Und ich geh weiter

bis ich vor einer kahlen
Wand steh und nicht mehr weiter
weiß.

Dort holt mich später dann
sicher jemand

ab.

(Rolf Dieter Brinkmann, 1968)


Christiane Eichhorn