Dienstag, 4. August 2015
Ober- und Unterwelt
Von Christa Anderski

Da liegt er vor mir, der Bahnhof, lang gestreckt mit einem Uhrenturm. Durch seine Türen fluten Menschen. Ich lasse mich hineintreiben, gleite über die Rolltreppe hinauf auf den Bahnsteig.
Ein schriller Pfiff, gefolgt vom monotonen Piepen der sich schließenden Zugtüren, sie knallen zu und quetschen ein „fuck you“ eines verspäteten Reisenden ein.
Der Zug rollt an und lässt einen Vater mit Sohn am Bahnsteig zurück. Sie winken. Sie winken noch, als der Zug schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Der Schatten eines einfahrenden Zuges verdunkelt den Bahnsteig. Ein Lautsprecher verkündet laut seine Ankunft. Menschen eilen zur Bahnsteigkante und schauen dem Zug verlangend entgegen. Bremsen quietschen. Dann wieder das monotone Piepen der sich öffnenden Türen. Menschen strömen heraus, eine menschliche Flutwelle ergießt sich über den Bahnsteig. Koffer rollen über den harten Boden. Worte gleiten aneinander vorbei. „Gute Reise!“ kreuzt ein „Schön, dass du da bist!“ Grelles Grölen überschwemmt den Bahnsteig und verschlingt jedes gesprochene Wort, sei es türkisch, japanisch, polnisch oder deutsch. Aktentaschen, Rucksäcke, Metall- und Lederkoffer verraten die Absicht der Reisenden.
Menschen stehen und warten. Sie warten auf den richtigen Anschluss. Einige lesen, andere starren auf ihr smartphone, wieder andere starren ängstlich auf die Anzeigetafel, als ob ihr Leben davon abhinge. Menschen mit Knopf im Ohr unterhalten sich mit unsichtbaren Partnern, andere beugen sich zu ihrem Nachbarn, Augen und Mund sprechen miteinander.
Füße tippen ungeduldig gegen den Boden. Taube schreckt auf. Ein Zug fährt ein, ein Zug macht sich bereit. Sie begegnen sich kurz. Bremsen lösen sich, während auf der anderen Seite Bremsen zum Anhalten quietschen. Türen öffnen sich. Türen schließen sich. Menschen steigen ein. Menschen steigen aus. Alles im gleichen Atemzug. Züge gleiten aneinander vorüber. Lebenspuls des Bahnhofs.
Bahnsteig- ein unablässiges Kommen und Gehen, Lachen und Weinen, Trauer und Freude, Abschied und Ankunft in stetigem Fluss. Wind peitscht Abschiedsschmerz vom Bahnsteig, Regen spült die letzten Spuren fort. Ich wische mir eine Regenträne aus dem Auge, kehre dem pulsierenden Bahnsteig den Rücken und steige in die Unterwelt.

Rolltreppen führen mich nach unten. Ich erreiche den U-Bahnhof und setze mich auf seinen Bahnsteig. Ein wie viel leiserer Platz: Bahn gleitet leise herein, Anzeigetafeln verkünden schweigend die Ankunft, schwarzer Noppenboden dämpft hastige Schritte. Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. Leise setzt die Bahn ihre Fahrt fort.
Stille. Neue Einkaufstüten stellen sich neben Füße, die geduldig warten. Kinderwagen und Hunde an ihrer Seite. Alle warten auf die Bahn, die sie nach Hause bringen soll. Stille, Warten. Vom hastigen Puls, vom Sturm der Oberwelt ist hier nichts zu spüren. Keine Regenträne, kein Windpeitschen.
Endlich eine Bahn. Sie bremst, ein kurzes Fauchen, dann entlässt sie die Menschen. Zielgerichtete Schritte bringen die Menschen zur Rolltreppe. Der Zug fährt fast unhörbar los. Der Bahnsteig atmet auf. Er schweigt und lauscht dem Reden der wartenden Menschen. Er bewacht den Schlaf der Menschen, die in seinen silbernen Sesseln die Augen geschlossen haben. Er lächelt leise den Kinder zu, die um seine Säulen Nachlaufen spielen.
Ein Platz der Ruhe, ein Platz der Heimkehr. Auch ich mache mich auf, aus der Unterwelt des Bahnhofs aufzutauchen und nach Hause zurückzukehren.



Samstag, 9. Mai 2015
Dem Neuen entgegen leben
Biografische Texte zum Umgang mit Kriegs- und Nachkriegserlebnissen
Sie brechen das Schweigen. 32 Kriegskinder und –enkel, Frauen im Alter zwischen 52 und 88 Jahren, haben sich anderthalb Jahre lang damit beschäftigt, welche Spuren Kriegs- und Nachkriegserlebnisse in ihrem Leben hinterlassen haben. In der Anthologie „Dem Neuen entgegen leben“ haben sie dabei entstandene Texte gesammelt, die anhand des persönlichen Erlebens Antworten auf viele Fragen geben wie zum Beispiel: Wie wurde das Erlebte in die Familie weitergegeben? Was konnte verarbeitet werden? Welche Erlebnisse geistern auch heute noch manchmal als Erinnerung durch Traum und Tag? Was hat das Schweigen in der Familie bewirkt? Die Antworten darauf sind so verschieden wie die Autorinnen, die ihre Kindheit und Jugend in Schlesien, Ostpreußen, dem Rheinland, in Hessen, Bayern oder Berlin verbracht haben.
Die persönlichen Antworten sind zugleich Anregung für die Leserinnen und Leser selbst den Webmustern der eigenen familiären Vergangenheit nachzugehen. Dabei fängt die Spurensuche oft im Alltäglichen an: Das Foto eines Großvaters, den man nie kennenlernen konnte, die vertrockneten Blätter einer Eiche oder die Übung von Tieffliegern an einem schönen Sommertag – manchmal genügt ein Augenblick, um Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit wieder lebendig werden zu lassen.
In ihren autobiografischen Texten greifen die Autorinnen der Gruppe „Schreibzeiten“ solche Erinnerungsfäden auf und folgen ihrer Spur soweit es möglich ist. Die geschilderten Erfahrungen und Verarbeitungsprozesse sind dabei so verschieden wie die Autorinnen selbst. Die älteren von ihnen erinnern sich an Flucht und Vertreibung, andere an die Armut in zerbombten Städten oder das Ende der Schreckensherrschaft. Was davon macht sich noch heute bemerkbar in Lebenseinstellungen, Albträumen oder Überzeugungen? Die Jüngeren gehen dem Schweigen in der Familie nach. Warum erzählten die Eltern so wenig? Warum fragten sie nicht? Was hat das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, mit ihnen gemacht?
Die gemeinsame Spurensuche war ein Prozess, der sich in vielen Gesprächen innerhalb der Schreibgruppe und auch in stillen Stunden zu Hause entwickelt hat. Er war nicht immer leicht, aber er war immer fruchtbar. Erste Antworten wurden gefunden, oft auch ein neues Verständnis für den eigenen Lebensweg. Gefunden haben die Autorinnen auch Versöhnliches und Verbindendes, manchmal auch dort, wo sie es gar nicht vermutet haben. Das Schreiben und Sammeln der Texte hat bei ihnen Erinnerungs- und Verarbeitungsprozesse ausgelöst. Es hat das belastende Schweigen gebrochen und vor allem eine befreiende Wirkung entfaltet. Dies wünschen sie auch den Leserinnen und Lesern.

Das neueste Buch der Autorinnengruppe "Schreibzeiten", in der wir versuchen, den persönlichen Folgen und Konsequenzen der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse nachzuspüren

Anthologie

Dem Neuen entgegen leben
Biografische Texte zum Umgang
mit Kriegs- und Nachkriegserlebnissen
Hrsg.: Erny Hildebrand
242 Seiten, 14,- Euro
Engelsdorfer Verlag
ISBN: 978-3-95744-338-0