Ankunft in einem neuen Leben
Von Ingrid Denzel
Ich schlendere durch das Bahnhofsgebäude über gepflegten Steinboden aus hellen Fliesen.Alles ist licht und weit. Auf jeder Seite gibt es Geschäfte, Lokale und Imbisse. hier könnte ich den ganzen Tag verbringen.Eine große Buchhandlung bietet alle nur erdenklichen Zeitschriften an.Selbst die internationale Presse ist weitgehend vertreten.Es gibt Bücher in großer Auswahl, Reiseführer, Bestseller, gebundene Bücher, Paperbacks,Kochbücher etc,etc.Außerdem Kleine Geschenke und Alle Sorten von Karten.
Es gibt Eine Parfümerie, eine Blumenhandlung, einen Schuhladen ,eine Apotheke,einen großen Drogeriemarkt. An jeder Ecke und auf dem gesamten Gang werden kulinarische Köstlichkeiten angeboten von Bratwurst über Backwaren , vom Sushi bis zur Pizza,aber auch deftige deutsche Küche von gesund bis bedenklich ist alles zu bekommen. Mir schwirrt der Kopf. Die vielen Menschen! Mir scheint, Menschen aller möglichen Nationen aller Altersstufen , die unterschiedlichsten sozialen Schichten treffen hier zusammen und eilen aneinander vorbei.Manche gehen zielstrebig mit ihren Rollkoffern zu ihrem Bahnsteig,andere halten an um nach oben auf die Monitore zu schauen,die Abfahrtszeiten und Bahnsteige anzeigen,um gleich darauf weiterzueilen oder die Richtung zu wechseln. Gruppen stehen in großen oder kleineren Pulks inmitten des Ganges,gestikulierend ,miteinander schwatzend oder laut lachend.Sie bilden Hindernisse für die eilende Menge.Wie an Felsen in der Brandung , so teilen sich die Vorübereilenden an ihnen.
Ich setze mich in eines der Lokale an einen Tisch, der an einem von der Decke bis zum Boden reichenden offenen Fenster steht, um das Treiben weiter zu beobachten und dabei meinen Gedanken nachzuspüren.Beim herumschlendern waren Erinnerungen in mir aufgestiegen. Wie hat sich doch alles verändert. In den Fünfziger Jahren, genauer gesagt 1954 mit knapp fünf Jahren kam ich hier an. Meine Mutter hatte mich aus Bad Pyrmont aus der Obhut meiner Großeltern abgeholt, bei denen ich fast ein Jahr gelebt hatte, während meine Eltern sich in Düsseldorf eingerichtet hatten. Hier hatten sie Arbeit gefunden, jetzt konnten wir hier zusammen als kleine Familie leben.
Wir kamen mit einem Zug an, der von einer zischenden, rußigen Dampflok gezogen wurde.Ich durfte möglichst nichts anfassen, weil es alles so schmutzig war. Ich sollte beim Aussteigen darauf achten, mit meiner Kleidung nicht die Außenfläche der Tür zu streifen. Gar nicht so einfach,ohne sich festzuhalten, den für mich breiten und tiefen Abgrund zwischen Trittstufe und Bahnsteig zu überwinden. Mein Vater holte uns ab, ein Lichtblick auf dem zugigen, dunklen Bahnsteig.Zuvor hatte er für zwanzig Pfennig eine Bahnsteigkarte lösen müssen,um durch die Sperre zu gelangen,die wir nun gemeinsam passieren durften, nachdem wir unsere Fahrkarte, einen hellbraunen ,rechteckigen kleinen Pappstreifen, dem Kontrolleur vorgezeigt hatten. Mit einer Zange wurde er mit einem weiteren Loch versehen. Eins hatte er schon im Zug bekommen.Mit unserem Gepäck mühten meine Eltern sich die steilen Stufen herunter. Rolltreppen oder gar einen Aufzug gab es nicht. Wir hätten natürlich einen Gepäckträger rufen können, aber der hätte ja Geld gekostet. Die Koffer hatten keine Rollen und es gab auch keine praktischen Wägelchen,mit denen man die Koffer durch den Bahnhof bis zur Straßenbahn hätte fahren können. Größeres Gepäck konnte man vorausschicken und bei der Gepäckabholung in Empfang nehmen. Auch die Bahnhofshalle sah völlig anders aus als heute . Der Gang dort hin war schmal und niedrig von trüben Neonröhren kaum erhellt. An den Bahnsteigen waren große Tafeln mit Ankunft und Abfahrtszeiten angebracht. Reklametafeln von der guten Wolle aus Gütersloh und Klosterfrau Melissengeist säumten den Weg.Die hohe Bahnhofshalle kam mir trotzdem gewaltig vor und es war aufregend für mich die vielen Menschen zu sehen.In Bad Pyrmont war alles soviel kleiner gewesen. Allein die vielen Fahrkartenschalter vor denen die Leute Schlange standen.Es gab eine Modelleisenbahn,die durch eine Modelllanschaft fuhr, wenn man einen Groschen in einen Schlitz steckte.
Den Bahnhof sollte ich in diesen Jahren noch öfter sehen, denn wir fuhren jedes Jahr in den Sommerferien in den Urlaub.Ein Auto besaßen wir nicht und Flugreisen waren unerschwinglich. Daher ist mir auch heute noch die Atmosphäre gegenwärtig. Er war zugleich ein Ort des Fernwehs,der Verheißung unbeschwerter Ferien an See und in den Bergen, aber auch ein Ort des Schmutzes, der nach Urin , nach abgestandenen Bier und kaltem Rauch riechenden Gänge, der finsteren Gestalten ,vor denen ich mich in Acht nehmen sollte.
Anfang der Sechzigerjahre standen Sonntags viele dunkelhaarige ,südländisch aussehende Männer in dunklen Anzügen in Gruppen zusammen in der großen Bahnhofshalle.Sie sprachen in einer schnellen, für uns unverständlichen Sprache gestikulierten und Pfiffen uns jungen Mädchen hinterher. Sie waren nicht sonderlich beliebt in der Gesellschaft.Von Spaghettifressern und Gigolos war die Rede. Erst später verstand ich, dass die Gastarbeiter sich hier trafen. Heimwehkrank suchten sie hier die Gemeinschaft von Landsleuten in der Nähe der Züge, die aus ihrer Heimat kamen Es gab auch ein Kino in der Gegend des Nordausgangs, das Akki. Dort wurden in einer Endlosschleife Kurz-und Zeichentrickfilme,Dick und Doof und Fox tönende Wochenschau gezeigt.An verregneten Sonntagen war es ein beliebtes Ziel für meinen Vater und mich.
Später als Teenie ging ich ab und zu mit einem Freund dorthin.Allerdings waren die Filme dann Nebensache.
Jetzt sitze ich hier an meinem Tisch am offenen Fenster und schaue auf den Gang.Gezeitenartig brandet die Menschenwoge aus dem gerade angekommenen Zug die Treppen herunter, zerstiebt an ihrem Fuß in verschiedene Richtungen,verteilt sich und verebbt,bis nur noch einzelne Personen nachtröpfeln ,manche wie Treibgut an den Rändern stehenbleiben, auf etwas warten,oder sich orientieren. Dann ist es für eine Weile ruhig auf dem Gang, bis eine neue Woge sich den Weg bahnt.
erny hildebrand am 07. August 15
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