Zwiespalt
Christa Anderski

Bereifte Rosenknospen, hochgeschlagene Mantelkragen, tief hängende graue Wolken, Menschen, die fröstelnd über das Kopfsteinpflaster eilen.
Ein Lichtstrahl sucht seinen Weg durch den trüben Novembertag und gleitet durch die Fenster eines Museums. Er trifft auf eine Fotographie. In seinem Schein taucht eine Figur auf mannshoher grauer Betonmauer auf: schwarz, schmal, voller Bewegung, in einem Schwung und in einem einzigen Strich gezeichnet.
Es ist ein Mann, der dem Dunkel einer Tiefgarage entflohen ist. Er springt über eine Mauer und jagt einem lichtbeschwingten Schmetterling nach. Seine Sehnsucht nach Licht und Leben verleiht ihm Kraft und Bewegung.
Ich stehe vor dem Bild und bin fasziniert von der Ausdrucksstärke dieser gemalten „Momentaufnahme“. Sehnsucht nach Licht und Freiheit - abstrahiert in einer einzigen Figur!
Da zieht der Lichtstrahl auf einmal weiter durch den Raum. Er trifft auf die Fotographie einer Hauswand, die in seinem Licht weiß erstrahlt. Auch auf dieser Wand finde ich ein Graffiti.
Plötzlich verspüre ich Ärger. Wie kann man fremdes Eigentum ohne Erlaubnis einfach so bemalen? Ich stelle mir vor, es sei die frisch gestrichene Wand meines Hauses. Empörung schnellt in mir hoch. Die Zeichnung zerfällt mit einem Mal zum Gekritzel, zum Geschmiere, zu einem unverschämten Übergriff.
Wütend eile ich zum Raumausgang. Auf der Rückseite einer Wand stoße ich auf Kohlezeichnungen, Ölgemälde und Collagen. Ich atme auf. Endlich „richtige“ Kunst. Ich bleibe stehen. Das Bildnis einer Mutter vortrefflich in Malweise und Ausdruck. Mein Blick fällt auf den Namen des Künstlers: Harald Naegeli. Wie, dieser Graffitikerl kann „richtig“ malen?
Ich komme ins Grübeln. Wie kommt ein „richtiger“ Künstler dazu, Graffitis an Wände zu sprühen? Ich kann es mir nicht erklären. Im nächsten Augenblick fällt mir Picasso ein. Auch er abstrahierte später oft seine Bilder auf das Wesentliche. Wie viele Zeichnungen hat er gebraucht, um einen konkreten Stier auf das Wesentliche zu reduzieren, auf seine Kraft und seine geballte Energie? Ich weiß es nicht, aber es war ein langer, mühsamer Prozess,
Ähnliches spüre ich bei Naegeli. Plötzlich entsteht in mir wieder die Faszination, die ich bei seinem Graffiti zuerst gefühlt hatte. Ich kann wieder die Großartigkeit erkennen. Formen und Linien auf ein Minimum reduziert und diese Leichtigkeit der Bewegung! Sie drücken ganz klar die Botschaft des Bildes aus. Phänomenal!!
Ich fasse den Entschluss, mich mit dem Künstler Naegeli intensiver zu beschäftigen.

Ort: Stadtmuseum- Ausstellung H. Naegeli „Der Prozess“