Tanz auf dem Seil der Wahrheit
Christa Anderski
Menschen sitzen erwartungsvoll am Rande eines Raumes. Sie schauen unruhig auf die Bühne, auf der sich das Spektakel ereignen wird. Drei schwarze Tische heben sich bedrohlich vom hellen Parkettboden und den weißen Wänden ab. Hinter jedem der Tische sitzt ein Mensch in schwarzem Gewand. Ein Hauch von Ernst und Gewichtigkeit ist zu spüren. Die schwarze Gestalt, die als Vorsitzende der Jury über den anderen thront, beginnt mit ihren Worten das Seil der Wahrheit quer durch den Raum zu spannen.
„Sie sind als Zeuge geladen. Als Zeuge sind Sie der Wahrheit verpflichtet. Sie müssen die Wahrheit sagen. Lassen Sie nichts weg und sagen Sie nichts Ausgedachtes. Wenn Sie lügen, machen Sie sich strafbar.“
Das Seil wird nachgespannt. „Sollten Ihre Aussagen vereidigt werden und Sie haben eine falsche Aussage getätigt, dann drohen Ihnen Geld- oder Haftstrafen.“
Dann ist es soweit. Der erste Seiltänzer betritt die Bühne. Es ist ein großer Mann, dessen leichte Nervosität sich nur an fahrigen Bewegungen seiner Füße erkennen lässt. Er steigt auf das Seil. Schnell hat er sich ausgependelt und geht sicher, von Fragen geleitet, darüber. Ohne Stocken und ohne Wankelmut erreicht er, unbeeindruckt von leichten Wortböen, sein Ziel.
Erleichterung spiegelt sich in seinem Gesicht, als er wieder festen Boden betritt.
Nach kurzer Beratung wird der zweite Seiltänzer auf die Bühne gebeten. Es ist ein junger Mensch. Es ist sein erster Auftritt. Er gibt sich sicher und gelassen. Doch schon von Anfang an bläst ihm ein schärferer Wind entgegen, als er das Seil betritt. Trotzdem ist sein Schritt noch fest. Da zieht ein Gewitter sich über ihm zusammen. Er spürt die Gefahr, denn das Seil der Wahrheit beginnt heftig zu schwanken. Angst steigt in ihm auf. Der junge Seiltänzer biegt seinen Oberkörper vor und zurück, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Schritt wird immer zögerlicher. Hilfesuchend wirft er einen Blick auf seinen Betreuer und spürt auch bei diesem Unsicherheit. Dennoch wird ihm von dort schnell eine Balancestange gereicht. Befreit greift der Junge sie auf. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“ Mit diesen Worten eilt er vorwärts und rettet er sich zum Seilende, ohne in den Abgrund der Lüge zu stürzen. Mit angespanntem und bleichem Gesicht setzt er sich neben den ersten Seiltänzer.
Die Vorsitzende der Jury ruft den dritten Bewerber auf. Eine junge Frau tritt hervor. Ihr rotschwarzes Kostüm flackert auf in der aufgeladenen Atmosphäre. Sie spürt Bedrohlichkeit, doch ihr Lächeln strebt, diese zu verscheuchen. Mit Anmut klettert sie auf das Seil der Wahrheit. Ihre ersten Schritte sind graziös. Doch dann zuckt ein greller Blitz, unmittelbar gefolgt von einem Donnerschlag, durch den Raum. Sturmböen setzen ein und setzen das Seil in Schwingungen. Erschreckt schreit die Seiltänzerin auf. Die ihr zugeworfene Balancestange gleitet durch ihre Finger und zersplittert auf dem Boden. Mit letzter Kraft versucht die junge Frau das Gleichgewicht zu halten. Da rutscht ihr rechter Fuß ab und sie stürzt in den Abgrund der Lüge.
„ Die Akte geht zur Staatsanwaltschaft wegen Betrugs im Prozessverfahren.“