Entkommen
Christa Anderski
Glastüren öffnen sich vor mir. Ich schreite hindurch und befinde mich in einem riesigen Raum. Hunderttausend Gegenstände blicken mir entgegen. Überall ein Blinken und ein Funkeln. Alles im Raum versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Verwirrt bleibe ich stehen. In diesem Augenblick ertönt die durchdringende Stimme eines Lautsprechers und drängt sich mir auf: „ Herzlich willkommen! Heute haben wir tolle und exklusive Angebote für Sie!“ Die Stimme zwingt mir den allgemeinen Kurs des Hauses auf. Wie wild winken mir plötzlich die Preisschilder mit ihren Rabattangeboten zu. Sie locken mit ihren feinen, aber unüberhörbaren Stimmen: „Kauf mich, kauf mich!“ und durchbohren mich wie Pfeile. Ich krümme mich, um ihrem beschwörenden Zwang zu entkommen. So wie damals die Gefährten von Odysseus verstopfe auch ich mir gegen den Sirenengesang des Hauses die Ohren.
Mein Blick fällt auf die Menschen, die mich in den Gängen streifen. Die einen schlendern suchend, andere wiederum hasten zielstrebig auf ein bestimmtes Ziel zu. Es sind junge Familien, ältere Ehepaare, langjährige Freundinnen. Ihnen allen gemeinsam ist der verlangende, stetig herumirrende und angespannte Ausdruck ihrer Augen. Ich merke, dass ich mich immer mehr verschließe. Ich fühle den stetigen Druck des Hauses auf mir lasten. Er lässt mir keinen Moment der Besinnung und zwingt mir Vorgefertigtes und Trendiges auf.
Da entdecke ich vor mir ein Schild: „Entfalte dich!“ Es weist auf eine Abteilung hin, die mit dem Wort „Freistil“ bezeichnet wird. Eine Woge der Erlösung überkommt mich, und ich haste dieser Abteilung entgegen. Ist dies endlich der Ort, an dem ich Zuflucht vor dem permanenten Kaufzwang finden kann? Ein Platz, wo ich vor den abertausend Reizen geschützt bin? In mir entsteht das Bild eines stillen Raumes, in dem keine Forderungen, keine Zwänge mich bedrängen. Ein Ort, an dem ich mich frei entfalten kann. Vielleicht gibt es dort sogar einen Mensch, der mit mir gemeinsam in aller Ruhe meine Vorstellungen für einen Schrank entwickelt und ihn sogar nach meinen Wünschen bauen wird. Einen Schrank, der mit meinen anderen Möbeln zu Hause harmoniert. Zu dem großen Leinenschrank meiner Großmutter, in dem sie ihr Linnen fein säuberlich ordnete, zu dem breiten schwarzen Schreibtisch meines Großvaters, von dem aus er, Pfeife rauchend, die Geschicke der Familie lenkte. Auch der hohe schwarze Bücherschrank, aus dessen Glasfenster viele Bücher neugierig in die Welt schauen, sehnt sich wie ich nach einem Schrank, mit dem er über alte Zeiten, Familie und den Geburtstag des Kaisers sprechen kann.
Voller Hoffnung trete ich in die Freistilabteilung und fahre entsetzt zurück. Metallisch glänzende Totenköpfe, goldene Hirschgeweihe und buntschreiende Bilder grinsen mich an. Ich drehe mich um und flüchte auf die Dachterrasse des Restaurants. Dort an der kalten, frischen Luft atme ich durch. Endlich Ruhe! Nichts und niemand bedrängt mich, allein der Wind berührt mich. Befreit strecke ich meine Arme aus. Da ergreifen mich tief fliegende Wolken und tragen mich in ein Land, in dem ich mich und meine inneren Bedürfnisse hören und entfalten kann.
Ort: Möbelhaus Schaffrath
erny hildebrand am 14. Februar 16
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