1941 ... und ich lernte lesen
Von Ingrid Basile

Als ich im Herbst 1941 eingeschult wurde, gab es in meiner Schule zwei erste Klassen.
In meiner Klasse wurde eine Ganzheitsmethode ausprobiert. Wir schrieben das erst halbe Jahr in Sütterlin. In der Parallelklasse mit normaler Fibel unterrichtete „das Frollein Maul“.
Die erste Seite meiner Fibel war ein Blatt für eine Heftmappe mit Hakenkreuzfahnen.
Die erste Seite wurde folgendermaßen gestaltet:
Ein Junge, er hieß Adolf, wurde nach vorne gerufen, der sollte mit vorgestreckten rechten Arm: „Heil Hitler“ rufen.
Wir wurden gefragt: „Welche Augenfarbe hat der Junge?“ Blau. Die Lehrerin schrieb mit blauer Kreide auf die Tafel: „Adolf ruft: „Heil Hitler.“
Dann wurde ein Mädchen nach vorne gerufen. Frage: Welche Farbe hat ihr Kleid? Rot. Mit roter Kreide schrieb sie auf der Tafel: „Susi ruft: „Heil Hitler.“
Dann sollten wir aufstehen und auch „Heil Hitler“ rufen. Das wurde mit gelber Kreide auf die Tafel geschrieben.
Dann bekamen wir das erste Fibelblatt mit den Sätzen in den entsprechenden Farben. In der Art ging das weiter. Das ziemlich letzte Blatt in unserer Fibel war das Alphabet.
Später wurde ich krank und musste sechs Wochen die Schule versäumen. Hin und wieder bekam ich ein neues Blatt. (Im Dezember bekam ich ein neues Blatt mit viel Text, ein bekanntes Märchen. Damit hatte ich aber Schwierigkeiten.)
Irgendwann wollte meine Mutter, dass ich einem Verwandten, der zu Besuch war, meine Lesekünste vorführen sollte. Ich fand mich nicht gut genug und versteckte mich unter dem Bett. Wurde aber hervorgezerrt. Der Karl-Heinz, so hieß meiner erwachsener Cousin, der eigentlich ganz lieb war, klemmte mich zwischen den Beinen fest, und ich musste im Beisein meiner Mutter lesen. Das habe ich als Katastrophe empfunden.
So habe ich eigentlich nie gut vorlesen gelernt. Trotzdem habe ich meinen Kindern und Enkeln viel vorgelesen.
In den letzten Schuljahren war ich eine der drei Besten von 62 Schülern.

Bewusstes Lesen ging erst ab 1947, als eine Frau in einer Garage eine Leihbücherei eröffnete. Wir mussten auf bestimmte Bücher sehr lange warten. Z.B. „Der Graf von Monte Christo“, „Winnetou“ „Tarzan“, usw.
Zwischendurch fand ich bei unserer Nachbarin zwei vom Bombenangriff beschädigte Bücher: „Burenblut“ und „Wal, Wal“. Beiden Büchern fehlte der Anfang und das Ende. Obwohl ich damals oft danach gesucht hatte, habe ich die fehlenden Seiten nicht gefunden.
Als Teenager habe ich zuviel gelesen, nach Meinung meiner Mutter: „Du verdirbst dir die Augen!“ Deshalb hatte ich immer wieder neue Plätze, wo meine Mutter mich nicht sah. Auf den Bäumen, im Garten, im Keller, am Lichtspalt der Holztür oder auf dem Dach neben dem Schornstein. Da entdeckte mich meine Mutter, als sie mit dem Fahrrad aus einer anderen Richtung als sonst nach Hause kam.
Manche Bücher haben mich bedrückt gemacht, z.B. „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm, die amerikanischen und englischen Schriftsteller, die ich dann bei Bertelsmann bestellte.
Mit 13 Jahren, 1947, las ich ein Buch von einem Überlebenden des KZ-Sachsenhausen. Das hat mich unter Anderem dazu bewogen, nie zu rauchen.